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Buchdoktor

Posted on 17.12.2020

Welche Gemeinsamkeit haben die steigende Kaiserschnittrate in Industriestaaten und die Symbiose von Steinkorallen mit einzelligen Algen auf Korallenriffen? In beiden Fällen geht es um eine spezielle für sie überlebenswichtige Symbiose von Lebewesen. Bei Neugeborenen findet nach einer Entbindung durch Kaiserschnitt eine Besiedlung durch die Bakterien der Mutter nur eingeschränkt statt, mit fatalen Folgen für das Immunsystem des kleinen Erdenbürgers. Korallenriffe sind ein Lehrstück über die Symbiose zwischen dem Korallenpolypen, Alge und Bakterium, aber auch für die Verletzbarkeit der Zweckgemeinschaft durch menschliche Eingriffe, wie Überfischung oder Wasserverschmutzung. Das Zusammenwirken dieses Trios fordert vom beobachtenden Menschen ein Umdenken; denn bisher haben wir Lebewesen als Individuen betrachtet. Riffbewohnende Schwämme könnten sich für die Pharmaforschung als Schatztruhe antibiotisch wirksamer Substanzen erweisen, da sie als Filtrierer nicht vor Feinden fliehen können, sondern sie allein mit chemischen Veränderungen abwehren müssen. Unser Interesse an Symbiosen war meist ein kommerzielles, wie im Fall von Hülsenfrüchten oder Zuckerrohr, die von einem stickstofffixierenden Bakterium profitieren. Die Entdeckung von Bakterien im Darm von Insekten weckte den Wunsch, auf diesem Weg evtl. den Übertragungsweg von Krankheiten zu blockieren (Malaria, Denguefieber). Wie leicht ich als völliger Laie Kegels Sicht des Biologen auf diese Prozesse folgen kann, hängt stark von der Art des beschriebenen Lebewesens ab. Während ich mir die Motive einer Ameise problemlos vorstellen kann, fällt mir das bei Bakterien erheblich schwerer. Der Autor ist sich dessen bewusst und erklärt den Grund: Im Gegensatz zu ihm habe ich in Gedanken kein Bild des Bakteriums als Eselsbrücke vor mir. Darum hält er es in den meisten Fällen für sinnlos, die Mikroben beim Namen zu nennen, von denen er berichtet. Kegels kritischer Auseinandersetzung mit der Mikroben-Besiedlung des modernen Menschen ist dagegen problemlos zu folgen. Durch Antibiotika-Missbrauch, Desinfektionswahn und die zitierte Rate von Kaiserschnitten ähnele unsere Ausstattung mit nützlichen Helfern inzwischen nur noch einem gemähten Zierrasen, so Kegel. Für das per Kaiserschnitt geborene Neugeborene birgt die Verarmung seiner Darmschleimhaut ein erhöhtes Risiko, später einmal unter Allergien, Übergewicht, Depressionen oder Diabetes zu leiden. Bernhard Kegels Thema ist Kooperation, konkret die Zusammenarbeit mit Bakterien und der Nutzen, den Wirt und Symbiont aus dem Zusammenleben ziehen. Der Autor regt auf mehreren Ebenen zum Umdenken an und macht uns unsere eingeschränkte Sicht auf die belebte Welt bewusst. Er will erreichen, dass seine Leser sich nach der Lektüre nicht mehr fragen, wie sie ein Bakterium loswerden, sondern wie sie gemeinsam damit existieren können. Am Beispiel steigender Quoten von Wunschkaiserschnitten verdeutlicht er auch biologischen Laien, wie wenig wir bisher über das Ökosystem Mensch wissen und welche Risiken wir durch unser Unwissen eingehen.

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