Profilbild von Wordworld

Wordworld

Posted on 16.12.2020

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund." "Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt. "Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität." Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden. "Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!" "Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden." Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen. "Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden." Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen. "Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt." Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen. "Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt." Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen! „In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“ Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht. "Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?" Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken. "Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster. Fazit: "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt. Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

zurück nach oben