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Wordworld

Posted on 16.12.2020

"Du bist ein Wir. Du bist ein Du. Du bist eine Sie, ein Es, Sie Mehrzahl. Ein Königreich für ein Ich." "Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" ist wie alle anderen Romane John Greens kein Buch, was man mal eben so weg liest, vom Inhalt, den Charakteren und auch der Sprache nicht. Natürlich war für mich gleich nach der Veröffentlichung klar, dass diese Geschichte früher oder später den Weg zu mir finden wird, auch wenn sie mal wieder auf viel Gegen- wie Rückenwind gestoßen ist. „Die Leute tun immer so, als gäbe es eine klare Grenze zwischen der Erinnerung und der Fantasie, aber die gibt es nicht, jedenfalls nicht bei mir. Ich erinnere mich an das, was ich mir ausgedacht habe, und denke mir aus, woran ich mich erinnere.“ Das Cover gefällt mir grundsätzlich sehr gut. Zusehen ist eine schwarze Spirale auf blau-weißem Untergrund, welche Azas seelische Unruhe und Gedankenspiralen verkörpern soll. Der orangefarbene Titel fügt sich gut in die Lücken zwischen den dunklen Strichen ein. Im Gegensatz zum englischen Original wirkt es viel zurückhaltender und weniger aufdringlich, mir gefällt die düsterere Ausgabe mit dem dunkelblauen Hintergrund, dem angedeuteten Boot und den winzigen Sternen aber viel besser. Schade, dass sich die Leserschaft bei der Befragung, welches Cover die deutsche Ausgabe zieren soll, für das jetzige entschieden hat und ich auch keines der limitierten Erstausgaben mit dem Wendecover ergattern konnte. Gut gefallen mit hier die zwei kleinen Schildkröten am Rand, welche auf den englischen Titel "Turtles all the way down" anspielen. Das somit wenigstens ein Element des perfekt passenden Titels in der Hanser-Ausgabe erhalten wurde, wenn schon der wunderbare Hintergrund des Titels entkernt wurde, ist ein kleiner Trost. Auch wenn man nach der Lektüre des Buches durchaus nachvollziehen kann, wie der Titel gemeint ist, fehlt ihm einfach die Tiefgründigkeit des Originaltitels. "Schildkröten bis untenhin" hätte auf der anderen Seite aber auch nicht besonders ansprechend geklungen... ;-) Erster Satz: "Als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich vielleicht Fiktion bin, verbrachte ich meine Tage an einer öffentlichen Bildungsanstalt namens White River High im Norden von Indianapolis, wo ich von fremden Kräften, die so übermächtig waren, dass ich sie nicht ansatzweise identifizieren konnte, dazu gezwungen wurde, jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit Mittag zu essen, nämlich zwischen 12 Uhr 37 und 13 Uhr 14." (Puh, das ist wohl die Königin aller Schachtelsätze! Wenn sich mein Deutschlehrer bei meiner nächsten Klausur beschwert, meine Sätze seien zu lang, werde ich ihm diesen Beweis hier vorlegen. Wenn John Green das darf - und er wurde mehrfach mit etlichen wichtigen Preisen auf der ganzen Welt ausgezeichnet - beweist das wohl, dass Schachtelsätze keine grundsätzlich schwarze Seele haben, oder nicht?) "Die Schritte meiner Mutter, waren so leise, ich hörte sie kaum, als sie ging. (...) Das Leben reimt sich, aber nie an der Stelle, wo man es erwartet" Naja, bleiben wir beim Thema. Im Fokus der Geschichte steht die 16-jährige Aza, die aus der Ich-Perspektive zuerst einmal von ihrem Teenager-Alltag erzählt, welcher sich neben den gewöhnlichen Problemen einer Heranwachsenden wie Schule, Familie und Freunde durch eine Angststörung beherrscht wird. Jeden Tag und jede Minute muss sie gegen ihre inneren Dämonen ankämpfen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Um sich von ihren immer wiederkehrenden Gedankenspiralen abzulenken stürzt sie sich zusammen mit ihrer besten Freundin Daisy in die Suche nach dem verschollenen Milliardären Russel Pickett, welcher gleichzeitig der Vater ihres Kindheitsfreundes Davis ist. Als sie beginnen nach dem Verschollenen zu suchen, wissen beide noch nicht, wie sehr sich dabei ihre Beziehung und ihr ganzes Leben verändern werden... „Ich konnte mein Leben lang nicht geradeaus denken oder auch nur einen Gedanken zu Ende denken, weil meine Gedanken keine Linien, sondern ineinander verknotete Schleifen waren, Treibsand, Wurmlöcher, die alles Licht verschluckten“ Ich muss zugeben, die Geschichte startet mit angezogener Handbremse, während Aza von ihrem Alltag erzählt. Nachdem wir Azas Alltag und die Hintergründe ihres Lebens besser kennengelernt haben, scheint die Suche nach Pickett in den Fokus der Geschichte zu rücken. Doch die detektivischen Tätigkeiten der beiden Freundinnen beschränken sich auf minimalistischer Suche im Internat und einem Besuch bei der Familie des Milliardärs. Schon bald wird klar, dass eigentlich Aza als Mensch Haupthandlung ist, und man außer ihren Gedanken, Ängsten und ihrem drohenden Kontrollverlust angesichts ihrer Angststörung nicht besonders viel an Handlung präsentiert bekommt. Das fand ich als Gegenstand der Geschichte unheimlich spannend, hätte das aber trotzdem gerne vorher gewusst: der Klapptext ist in dieser Hinsicht recht irreführend. "Ich denke: Du wirst nie frei davon sein." Ich denke: "Du suchst dir deine Gedanken nicht aus. Ich denke: "Du stirbst, und du hast Keime in dir, die sich am Ende von innen durch deine Haut fressen." Ich denke und denke und denke." Wer hier eine abenteuerliche Hinweissuche nach einem verschollenen Milliardär sucht, ist also eindeutig an der falschen Adresse. Doch das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben die langweilig ist. Manchmal habe ich das Gefühl dass John Green einfach über erzähltechnischen Elementen wie unvorhersehbaren Wendungen, einer komplexe Story Line mit rotem Faden, einen zum bersten gespannten Spannungsbogen oder schockierender Action steht - all das, was das durchschnittliche Buch spannend und lesenswert macht, scheint er einfach nicht zu brauchen. Oft haben seine Bücher eigentlich nicht besonders viel Handlung, sind aber trotzdem spannender als jeder Krimi. Die ganze Welt fragt sich beim Lesen seiner Bücher: Wie bekommt er das bloß hin? Der Autor weiß einfach mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen. Auch wenn das Buch anders ist als seine vorhergehende Romane, ernster, ruhiger und in sich ruhender daherkommt ist es doch wieder ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch. „Hast du Angst?“ „Ein bisschen.“ „Wovor?“ „Kann ich nicht sagen. Es gibt kein Wovor. Ich habe einfach Angst.“ Berührend und authentisch, klar, aber warum verstörend? Die Konfrontation mit Azas Angst- und Zwangsstörung hat mich durchaus überrumpelt und sowohl unangenehme Fakten über das menschliche Mikrobiom als auch selbst verletzende Züge wie das zwanghafte Öffnen einer nie ganz verheilenden Wunder an ihrem Mittelfinger können dem Leser schon mal auf den Magen schlagen. Wer will schon wissen, dass der eigene Körper zu 50% aus fremden Organismen besteht oder beim küssen über 80 Millionen Bakterien übertragen werden? Ich nicht, und Aza eigentlich auch nicht, doch ihre Angst lässt sie immer wieder Wikipedia Artikel über solche Fakten lesen. Oder sie zwingt sie dazu, an nichts anderes denken, als an C. difficile, ein Bakterium, das sich in ihrem Körper vermehren und zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung führen könnte, während sie eigentlich in der Cafeteria sitzt und versucht, sich ganz normal mit ihren Freunden zu unterhalten. "Sorgen sind die angemessene Reaktion auf das Leben. Das Leben ist besorgniserregend." John Green beschreibt sehr intensiv und nachvollziehbar schockierend wie Aza sich immer wieder in ihren eigenen Gedankenspiralen verläuft, unfähig ihrem eigenen Kopf zu entfliehen. Obwohl Azas Reaktionen auf ihre Angst und viele ihrer Handlungen, wie zum Beispiel Desinfektionsmittel zu trinken oder zwanghaft das Pflaster an ihrem Finger zu wechseln, rein rational betrachtet gar keinen Sinn machen und für den Durchschnittsmenschen verrückt und unlogisch erscheinen, schafft der Autor es, dem Leser klarzumachen, warum Aza so handelt, warum sie so handeln muss. Als Leser hab ich mit ihr gelitten und ihr versucht mental Kraft zu schicken, aus ihren Gedankenspiralen auszubrechen. Dass John Green ebenfalls an Störungen aus dem Angst- und Zwangsbereich leidet, wie man in seiner Danksagung nachlesen kann, gibt dem Buch nochmal einen viel ernsteren Beigeschmack. „Aber was ich mich frage, ist, gibt es überhaupt ein Selbst, unabhängig von den Umständen? [...] Ich entscheide nicht, ob ich schwitze, oder ob ich Krebs oder C. difficile kriege oder so was, also ist es auch nicht wirklich mein Körper. Ich entscheide überhaupt nichts - es wird alles von äußeren Kräften entschieden. Ich bin eine Geschichte, die jemand anderes erzählt. Ich bin eine Verkettung von Umständen.“ Trotz der ernsten Thematik schafft es John Green wie wir es von ihm gewohnt sind, ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, leichte Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Im Gegensatz zu seinen anderen Werken schafft er es hier nicht, der Handlung die ganze Schwere zu nehmen, trotzdem ist sein Stil mal wieder wunderschön und etwas anspruchsvoller als sonst in Jugendbüchern. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert er, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was er meint und bringt Gefühle und Gedanken seiner Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Feinfühlige Zitate berühmter Personen, die in Auszügen von Davis´ Blog vorkommen, unterstützen die philosophischen Überlegungen der Charaktere, die aber immer so bodenständig und dezent bleiben, dass keine plumpe Belehrungssituationen zu Stande kommen. "Wenn man lange genug in den Himmel hoch sieht, fängt man an die eigene Winzigkeit zu spüren. Der Unterschied zwischen lebendig oder nicht lebendig - das ist etwas. Aber von den Sternen aus betrachtet, gibt es fast keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von lebendig, zwischen mir und dem frisch gemähten Gras, auf dem ich liege. Beide sind wir Unwahrscheinlichkeiten: das, was im Universum einem Wunder am nächsten kommt." Das Kernstück der Geschichte ist hier aber wie so oft die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich handelt die Geschichte in erster Linie von Aza und ihrem Kampf gegen ihre Zwangsstörung, charakterisiert sie als ganz besondere Person und erzählt von ihren Beziehungen zu anderen Personen: ihrer Freundschaft zu Daisy, ihre Beziehung zu Davis, das Verhältnis mit ihrer Mutter, die Liebe zu Harold, ihrem Auto... "Unsere Herzen waren an der gleichen Stelle gebrochen. Das ist so etwas wie Liebe, aber vielleicht nicht ganz dasselbe." Das Buch handelt aber auch von Davis, dessen Vater verschwunden ist, der sich furchtbar einsam fühlt und nicht bereit dazu ist, die Verantwortung für seinen kleinen Bruder zu übernehmen. Es handelt von Daisy, Azas bester Freundin, die sich in Starwars Fanfiction vor der Armut ihrer Eltern flüchtet und aus Angst vor der Stille ununterbrochen plappert. Und von Noah, Davis‘ kleinem Bruder, der auf der einen Seite den großen Macker raushängen lässt, sich aber vor allem nach Geborgenheit und Sicherheit sehnt und deshalb nachts weinend zu Davis ins Bett schlüpft, wenn es keiner sieht. Es handelt von Verlust und Ohnmacht, Liebe, Kraft und Hoffnung. Es handelt von realistisch geschriebenen Charakteren, die mit dem Leben kämpfen. Das Problem: "Keiner versteht den anderen, nicht richtig. Wir sind alle in uns selbst gefangen." Das Ende hat es dann nochmal in sich. Auf der einen Seite hasse ich es, weil es kein wirkliches Happyend ist, auf der anderen Seite muss ich John Green leider zustimmen wenn er durch Aza sagt: „Das Problem bei Happy Ends ist, dass sie entweder nicht richtig glücklich sind, oder sie sind kein richtiges Ende. Im richtigen Leben werden manche Dinge besser und manche Dinge werden schlechter und irgendwann stirbst Du“ Ja, irgendwann stirbt man dann, und wenn das passiert kann man es nicht ändern, doch man kann dieses Buch gelesen haben, was das zurückgelegte Leben dann um ein winziges bisschen besser macht! Zum Schluss noch mein Lieblingszitat: "In die Augen kann man jedem sehen. Aber jemand zu finden, der dieselbe Welt sieht, ist ziemlich selten." Fazit: Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch. Leider ist es schleppender und erdrückender als seine anderen Werke, dennoch voller leisem Tiefgang, wundervollen Charakteren und Mut.

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