Wordworld
Lange bevor ich wusste, worum es hier geht, hat mich das wunderschöne Cover schon in den Bann gezogen. Als dann der Blick auf den Klapptext auch noch eine verrückte, magische, ganz besondere Geschichte versprach, konnte ich nicht mehr widerstehen. Und der äußere Eindruck bewahrheitete sich: Laini Taylor entführt hier in eine poetische Geschichte über Träume und Albträume, Hoffnungen und Ängste, Schönheit und Hässlichkeit, Wunder und Monster. "Gestohlene Namen, gestohlener Himmel, gestohlene Kinder, gestohlene Jahre. Was waren die Mesarthim im Grunde anderes gewesen, dachte Lazlo, als Diebe im großen Stil." Das Cover ist in verschiedene Schattierungen von dunklem Blau gehalten, die durch die verspielten Lichtpunkte und wattige Farbverläufe wirken wie ein Nachhimmel, aber von helleren Lichtbahnen durchzogen sind, die einen Hauch von Wissenschaft und Symmetrie hinzufügen. Im Mittelpunkt steht die goldene Form einer Motte, die in der Geschichte ein zentrales Motiv darstellt und die durch geometrische Muster aufgepeppt wurde. Auch der goldene Titel, der wie das Motiv zum Glück vom Englischen übernommen wurde, passt haargenau. Sehr schön ist auch die ausgestaltete Titelseite, die durch fünf gezeichnete Motten geziert wird, deren Flügelmuster bei genauerem Hinsehen ein Gesicht ergeben. Die Kapitelanfänge werden ebenfalls durch die Motte geziert und die fantasievollen Überschriften zeigen auf, in welche Richtung sich die Geschichte bewegen wird. "Wunder zum Frühstück" oder "Das Küssen von Geistern", "Einhundert Splitter aus Dunkelheit", "Die Muse der Albträume" oder "Die Knochen erschlagener Dämonen" verbinden die beiden Polaritäten, die sich in meiner Lieblingsüberschrift widerspiegeln: "Wunderschön und voller Monster". Eine Protagonistin sagt an einer Stelle der Geschichte, alle wahren Geschichten seien wunderschön und voller Monster und Lazlo solle ihr etwas Wildes und Unglaubliches erträumen. Das hat sich die Autorin wohl auch als Maßstab gesetzt, denn die Geschichte, die Welt die sie für uns herbeiträumt wirkt wirklich wunderschön, monströs, morbide, sanft, farbenfroh und einfach - alles zugleich. Erster Satz: "Am zweiten Sabbat des Zwölfmonds fiel in der Stadt Weep ein Mädchen vom Himmel." Mit diesem kuriosen Satz beginnt der verwirrende wie eindrückliche Prolog, der rückblickend etliche Anspielungen enthält, den Leser aber erstmal ratlos zurücklässt. Anstatt weiter auf die seltsamen Mysterien der Stadt Weep einzugehen, verfolgen wir das Leben des Waisenjungen Lazlo Strange, der als Findelkind in einem strengen Kloster aufwächst. Entfliehen kann er der grauen, tristen Welt des Klosters nur in seiner Fantasie, in seinen Träumereien, in den strahlenden Geschichten über die verborgene Stadt Weep, die ein alter Mönch ihm erzählt. Als er schließlich das Kloster für eine Anstellung als Bibliothekar verlässt, widmet der Träumer jede freie Minute dem Studium der vergessenen, sagenumwobenen Stadt, deren Namen gestohlen und durch ein misstönendes "Weep" ersetzt wurde. Seine unterschätzten Bemühungen und Studien erweisen sich plötzlich als von unschätzbarem Wert, als eines Tages eine Delegation Krieger aus der fernen Stadt in der Bibliothek auftaucht und nach Freiwilligen für eine Expedition sucht. Für Lazlo geht sein großer Traum in Erfüllung, doch in Wahrheit warten in Weep mehr Geheimnisse und Abgründe, als er es sich jemals erträumen konnte... "Welche Macht konnte einen Namen aus der Erinnerung der ganzen Welt tilgen? Lazlo wollte losziehen und es herausfinden. Das war sein Traum, kühn und großartig: dorthin zu reisen, einmal um die halbe Welt, und die Mysterien selber lösen. Natürlich war es unmöglich. Aber seit wann hielt das einen Träumer vom Träumen ab?" Erst im zweiten Teil der Geschichte stoßen wir auf einen zweiten Handlungsstrang, der sowohl im Klapptext als auch in meiner Zusammenfassung nicht erwähnt werden kann, da er ein großes Geheimnis vorwegnehmen würde. Ab dort wird in der personalen Perspektive über zwei außergewöhnliche junge Menschen berichtet, die nicht unterschiedlicher sein könnten, die aber ihre Träume und ihre Sehnsucht nach einer Welt verbindet, in der sie niemals leben könnten. "Welchem Zweck sollte Hass dienen? Er gleich den Thrif der Wüste Sandgeschöpfe, die jahrelang überleben konnten, indem sie nur ihre eigenen abgeworfenen Hautfetzen fraßen. Das vermochte Hass ebenso - sich selbst zu verzehren und so zu überleben -, aber nicht ewig. Die notdürftige Kost reichte bloß solange, bis ein reicheres Mahl in Reichweite kam. Hass wartete auf Beute. Und worauf warteten sie?" Mit feinfühligen Beschreibungen hebt Laini Taylor ihre beiden Protagonisten aus dem bunten Meer aus Träumereien, Göttern, Monstern und Geistern hervor und lässt sie lebendig werden. Dabei ist vor allem Lazlo fern ab von jeglichem Klischee konstruiert und unterscheidet sich drastisch von üblichen oder gar durchschnittlichen Protagonisten einer Fantasy-Serie. Der unscheinbare, unansehnliche Junge besitzt nichts als seine Geschichten, seine Träume, seine Fantasie, welche er tief im Herzen als seinen größten Schatz verwahrt und doch macht ihn das zur reichsten Person des ganzen Landes. Seine kindliche Ehrfurcht, die neugierige Begeisterung und die demütige Höflichkeit, mit der er der Welt begegnet nehmen den Leser sofort für diesen sanftmütigen, jungen Mann ein und garantieren, dass man mit ihm mitfiebert und dieser Figur von Herzen das Beste wünscht. "Schon seit ganzes Leben lang verging die Zeit auf die gleiche und einzige Art, die er kannte, nämlich mit unveränderlicher Langsamkeit, so wie Sandkörner einzeln durch ein Stundenglas rinnen. Und wäre dieses Stundenglas real gewesen, dann hätte sein Lebenssand vom Boden bis zur taillierten Mitte - als Vergangenheit und Gegenwart - eine so graue Färbung gehabt wie seine Robe und seine Augen. Doch im oberen Teil, der seine Zukunft enthielt, befände sich ein kunterbunter Sturm aus Farben, himmelblau, zimtbraun, blendend weiß, goldgelb und rosenrot wie das Blut der Svytagor. Das war Lazlos Hoffnung, davon träumte er: dass im Laufe der Zeit, Korn für Korn, der graue Sand seines Lebens durch die strahlenden Farben seines Traums ersetzt werden würden." Auch Sarai scheint nicht in die Welt zu passen, in der sie lebt - eingesperrt mit Monstern, die ihre Familie sind, in einem Schloss hoch über den Wolken. Genauso sehr wie sich Lazlo nach dem Absonderlichen und Wunderbaren streckt, sehnt sich danach, einfach normal zu sein und dazuzugehören. Wie genau sich ihr Handlungsstrang in die Geschichte einfügt, ist zu Beginn noch nicht ganz klar, doch sobald sich die Erkenntnisse aus Lazlos und Sarais Erzählungen zu verbinden beginnen, entsteht ein magisches Gesamtbild, das von zwei tragischen Helden erzählt und den Lesenden nicht mehr loslässt. "Sie starrte in den Spiegel und stellte fest, dass sie nicht länger fähig war, sich unbefangen durch eigene Augen zu betrachten. Stattdessen sah sie, was die Menschen sehen würden. Kein Mädchen, keine Frau oder die Übergangsphase dazwischen. Man würde weder ihre Einsamkeit wahrnehmen, noch ihre angst, ihren Mut oder gar ihre Menschlichkeit. Was die Leute in ihr sahen, war nur Obszönität. Drohendes Verhängnis. Götterbrut." Laini Taylors unfassbarer Schreibstil, der zu den schönsten gehört, die ich jemals kosten durfte, trägt zur Schaffung dieses Gesamtbildes natürlich auch nicht unwesentlich bei. Legendäre Mysterien über wütende Götter, gestohlenen Wörtern, verschwindenden Namen, unzerstörbare Metalle, schreckliche Albträume, gequälte Geister, gefallene Engel, wunderschöne Monster, gewiefte Alchemie und unglaubliche Magie - sanft und poetisch, eindringlich und voll träumerischer Süße nimmt sie uns mit auf eine ereignisreiche Reise und entführt in die sagenumwobene Stadt Weep. Im Großen wie im Kleinen findet sie dabei großartige und manchmal auch absurde Sprachbilder, die uns ihr Setting oder die Gefühle der Protagonisten näher bringen und als weiteres Alleinstellungsmerkmal hervorstechen. (Beispiel: "Ein Trio aus Ängsten lag schwer in seinem Magen, als hätte er einen Mundvoll Zähne verschluckt. Immer, wenn er zu lange mit seinen Gedanken allein war, fühlte es sich an, als nagte sie an seinem Inneren, als verbissen sie sich in seinen Magenwänden.") Sie erzählt die Geschichte von zwei Leben geschickt gerafft in 352 Seiten und vermittelt dem Leser trotz Zeit- und Ortssprüngen das Gefühl von Ruhe und Gemächlichkeit. Dabei kommen auch detailreiche, bildhafte Ausschmückungen nicht zu kurz, sodass eine magische Atmosphäre entsteht, die dank der fabelhaften Übersetzung Ulrike Raimer-Noltes nicht leidet. "So trieb er dahin, den Kopf voller Mythen und immer halb in einer anderen Welt verloren, die aus Geschichten gesponnen waren. Dämonen und Flügelschmiede, Seraphim und Geister, er liebte sie alle. (…) Seine ganze Gedankenlandschaft war davon geprägt, eine zerklüftete, überwältigende Wildnis, passend zu einem kühnen, großartigen Traum. Zu kühn und zu großartig für jemanden von seiner Sorte. Das war ihm klar, aber der Traum wählte nun einmal den Träumer und nicht umgekehrt." Kritisch anzumerken ist bloß, dass die Geschichte, die im Original in zwei Teile geteilt wurde ("Strange the Dreamer" und "Muse of Nightmares"), hier in vier Teilen erscheinen wird. Dieses Buch ist also nur der erste Teil von "Strange the Dreamer", dessen Fortsetzung schon nächsten Monat erscheint ("Strange the Dreamer - ein Traum von Liebe", 27.11.19). Es ist also nicht verwunderlich, dass die Geschichte am Ende ohne Vorwarnung abbricht und den Leser in der Luft hängen lässt. Da diese Trennung nicht vorgesehen war, endet es nicht mit einem kunstvollen Cliffhanger sondern wird einfach abrupt abgewürgt als hätte der Verlag rechnerisch die Mitte des Buches bestimmt und willkürlich die Trennung gesetzt. Das hat mich doch wirklich gestört, auch wenn ich auf den nächsten Band nicht mehr lange warten muss. Denn meiner Meinung nach wäre die Trennung schlicht nicht nötig gewesen. Bei Fantasy-Reihen ist ein Buch mit über 600 Seiten absolut kein Problem und so ist die Geschichte wirklich sehr dünn. Nur diese kleine Enttäuschung am Ende hat mich dazu veranlasst, der Geschichte keine 5 Sterne zu geben. "Die Mysterien von Weep hatten ihn begleitet und ihren Sirenengesang in seinem Blut erklingen lassen, solange er sich erinnern konnte. Morgen zur selben Zeit würden sie keine Geheimnisse mehr sein. Das Ende offener Fragen, dachte er, aber nicht das Ende von Staunen und Wundern. Dies war erst der Anfang. Ganz sicher." Fazit: Legendäre Mysterien über wütende Götter, gestohlenen Wörtern, verschwindenden Namen, unzerstörbare Metalle, schreckliche Albträume, gequälte Geister, gefallene Engel, wunderschöne Monster, gewiefte Alchemie und unglaubliche Magie - Laini Taylor träumt uns sanft und poetisch, eindringlich und voll träumerischer Süße eine unglaubliche Welt und zwei besondere Protagonisten herbei. Eine poetische Geschichte über Träume und Albträume, Hoffnungen und Ängste, Schönheit und Hässlichkeit, Wunder und Monster.