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Wordworld

Posted on 16.12.2020

Da diese Geschichte von der Weltpresse in den Himmel gelobt wurde, musste ich sie natürlich unbedingt lesen. Und auch ich wollte diese ungewöhnliche Geschichte lieben - leider ließen mich der zerstückelte Aufbau, die eigenwilligen Protagonisten, die vielen Genrefacetten und die klaffende Diskrepanz zwischen Magie und Realismus aber etwas ratlos zurück. Das Cover ist eine wahre Schönheit! Es war eine unfassbar gute Idee, hier nahe an der Gestaltung der Originalausgabe zu bleiben, die den träumerischen Abenteuer-Charme der Geschichte wunderbar widerspiegelt. Im Zentrum der Gestaltung ist der Wolkenkutter zu sehen, der eine tragende Rolle im Roman spielt und gleichzusetzen mit dem Wunsch nach Freiheit ist. Durch die zarten, beigen Farben, den schwarzen Akzenten und den feinen, goldenen Linien wird die kindliche Sicht des Erzählers deutlich und die verspielten Wolkenwirbel an den Seiten runden die Gestaltung treffend ab. Wundervoll sind auch das goldene Lesebändchen und das Bild innerhalb der Buchdeckel, das zwei Gestalten im Dschungel zeigt, die auf eine Bucht hinunter blicken. Wir begleiten den Protagonisten George Washington Black von 1830 bis 1836 durch seine viergeteilte Lebensgeschichte. Jedem Teil ist ein Bild des Wolkenkutters mit dem kleinen Jungen und dem großen, dünnen Mann mit Fernrohr vorangestellt, welches das Leitmotiv der Handlung wird. Ein weiteres Bild, das zur Freiheit, dem Abenteuer und den ständigen Reisen passt, ist eine fliegende Möwe, die wir vor jedem neuen Kapitel sehen. Erster Satz: "Ich war vielleicht zehn, elf Jahre alt - genau kann ich das nicht sagen -, als mein erster Master starb." Mit diesen Worten reisen wir in die drückend heiße Karibik - genauer nach Barbados auf die Faith Plantage, auf der seit Jahren von Sklaven Zuckerrohr angebaut wird. Wir treffen auf den jungen George Washington Black, der als "Feldnigger" mit den Grausamkeiten und der Willkür des Sklavendaseins leben muss. Seine Herkunft ist unbekannt, an seiner Seite steht jedoch unverrückbar "Big Kit", die ihn mit wilder Zärtlichkeit beschützt, bis sein Leben eine unvorhergesehene Wendung nimmt. Es folgt ein herzzerreißendes, brutales Porträt der Sklaverei aus der Sicht eines Kindes, das ans Herz geht, aber ein wenig unstringent erzählt ist. Wir springen vor und zurück in der Handlung, erhalten leise Vorausdeutungen nur um dann verwirrt in der Vergangenheit zurück gelassen zu werden. "Wie ist das, Kit? Frei sein?", fragt Wash Big Kit eines Tages, da er nichts anderes kennt als unfrei, wertlos, rechtlos und eines anderen Besitz zu sein. Als Christopher "Titch" Wilde, der Bruder seines grausamen Masters, ihn zu seinem wissenschaftlichen Assistent erhebt, erfährt er zum ersten Mal einen Vorgeschmack darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein, ein freier Mensch zu sein. Bei Titch lernt er wissenschaftliche Instrumente zu bedienen, mathematische Berechnungen anzustellen, zu lesen, zu schreiben und entdeckt schließlich auch das Zeichnen für sich. Doch dann zwingt sie ein schlimmer Zufall zur Fluch im selbstgebauten Wolkenkutter, der das ungleiche Paar über den ganzen Planeten führt... "Meine Brust schmerzte vor Kummer und Staunen gleichermaßen, ein Staunen, das immer immer größer wurde und mir den Atem nahm. Der Wolkenkutter drehte sich zunehmend schneller, stieg aber immer noch höher. Ich fing an zu weinen - in tiefen, lautlosen, qualvollen Schluchzern - und drehte das Gesicht weg von Titch, starrte hinaus in die Grenzenlosigkeit der Welt. Die Luft wurde kälter, legte sich wie ein feines Netz auf meine Haut. Es gab nichts mehr als Schatten, rotes Licht, Feuersturm und Raserei. Und wir flogen mitten hinein in das Auge des Sturms, wild und wundersam." So wird der Mittelteil der Geschichte eingeläutet - wie auch andere Kritiker sagen: viel zu früh für meinen Geschmack, wäre ich doch noch gerne ein wenig länger auf Barbados geblieben. Stattdessen endet die tragische Geschichte über die Sklaverei abrupt und wir suchen Unterschlupf in der Arktis, verlieren Titch, fliehen vor Kopfgeldjägern, finden Freiheit in Kanada und suchen mit Wash vor allem eines: eine Heimat. Leider scheint die Erzählung ab diesem Teil der Handlung genau wie Washingtons Leben ziellos vor sich hin zu plätschern und zerstückelt sich in seltsamen Zeitsprüngen, Ortswechseln und Begegnungen. Wie Washington dabei vom ahnungslosen Jungen zum reifen Wissenschaftler wird und langsam auch sein Künstlertum wieder entwickelt, wird dabei leider nur am Rande erzählt. Erst als Washington auf die junge Künstlerin Tanna und ihren Vater, den berühmten Meeresbiologen Dr. Goff trifft, nimmt die szenenhaft vor sich hertreibende Handlung wieder ein wenig mehr Struktur an und er folgt dem ungleichen Paar nach England, wo seine Flucht vor seiner Vergangenheit in einer verzweifelten Suche nach einer Heimat, Zugehörigkeit und Anerkennung mündet. Und so macht er sich - endlich zum freien Mann geworden - auf die Suche nach Titch, mit dem alles seinen Anfang nahm... "Ich hatte eine Wahl. Nur wenige Augenblicke, um abzuwägen. Und ich traf sie. Würde ich mich heute wieder so entscheiden? Nun, das ist eine gute Frage. Nur so viel: Selbst wenn ich mir nur wenig von Big Kits Weisheit angeeignet habe, dann doch immerhin, mit dem Blick nach vorn durchs Leben zu gehen, nach dem zu streben, was noch kommt, da der Weg, der hinter einem liegt, unveränderlich ist." So reisen wir also mit Wash von Barbados mit einem Wolkenkutter und einem Segelschiff nach Virginia, dann nach Hudson Bay in die Arktis, nach Nova Scotia in Kanada, nach England, in die Niederlande und schließlich nach Marrakesch in Marokko. Das wechselnde Setting wird trotz einiger Unglaubwürdigkeit was Praktikabilität der Reisen angeht durch Esi Edugyans wundervolle Sprache und ihre ausdrucksstarken Beschreibungen lebendig. Sie zeichnet Washintons Leben bitter, verstörend, hoffnungsvoll, sanftmütig und wunderschön - oft alles zugleich - und berührt mit eingängiger Wahrhaftigkeit. Leider erscheinen viele Formulierungen, die wohl im Original ungewöhnlich aber interessant waren etwas seltsam. Womöglich ist da bei der Übersetzung einiges verloren gegangen. Was bei mir ebenfalls nicht immer funktioniert hat, sind die seltsamen Gegensätze, durch die sowohl Handlung, Setting als auch die Protagonisten schlecht greifbar blieben. "Ihr wart Kinder", sagte sein Vater. "Ich hattet keine Ahnung von Schönheit." "Kinder wissen alles über Schönheit", konterte Titch leise. "Es sind die Erwachsenen, die sich nicht mehr erinnern." Die Autorin erzählt auf seltsame Art und Weise gleichzeitig mit träumerischer Magie und hartem Realismus, von allem und von nichts, wunderschön aber manchmal leider etwas substanzlos. Auch die Protagonisten wie Big Kit, Titch, Peter Haas, Mister Philip, Mr. Goff oder Tanna sind spannende Kreationen, die man nie ganz versteht und die zu viele Gegensätze vereinen um auf den Leser schlüssig und real zu wirken. So erscheinen sie oftmals eher wie Traumfiguren, Geister oder Projektionen, die Washington auf seinem schwierigen Weg einen Abschnitt lang begleiten. Zu der allgemeinen Verwirrung, die diese Erzählweise bei mir hervorgerufen hat, hat auch der wilde Genre-Mix beigetragen. Wir haben hier ein brutales Porträt der Sklaverei vorliegen genau wie ein Coming-of-Age-Roman. Zu wissenschaftlichem Entdeckergeist gesellt sich das künstlerische Genie Washingtons. Und zwischen diesen ganzen Teilen wird mit halsbrecherischem Abenteuer und tiefem Freiheitsdrang aufgefüllt. Im Kern ist die Geschichte meiner Meinung nach jedoch ein Bildungsroman, der auf Washingtons Entwicklung hin zu einem freien Mann mit Selbstwertgefühl und Entscheidungskraft fokussiert. Diese wilde Mischung führt aber leider dazu, dass ich am Ende nicht genau wusste, was mir die Geschichte nun sagen soll und sie mich ratlos zurückließ. "Halte dich an das, was du siehst. Nicht an das, was du sehen sollst." Am Ende den Ausschlag für meine eher enttäuschte Bilanz hat jedoch das sehr unbefriedigende und abgewürgte Ende gegeben. Wir verlassen die Geschichte nämlich äußerst abrupt mitten in einer spannenden Entwicklung und scheinbar ohne jeden Grund. Es bleiben eine Tonne ungeklärter Fragen und noch viel nicht ausgeschöpftes Potential, das genau wie das restliche Leben Washingtons ungenutzt liegen gelassen wird. Außerdem erhält der Roman gegen Ende einen äußerst seltsamen, schicksalsträchtigen, mythischen Einschlag, der nicht recht zur realistisch-nüchternen-wissenschaftlichen Darstellung des Rests passen will. Was sich Esi Edugyan bei diesem Ende gedacht hat, fällt mir beim besten Willen nicht ein - das gibt einen Stern Abzug! Fazit: Ein berührendes Porträt der Sklaverei, das gleichzeitig Coming-of-Age- und Bildungsroman voller wissenschaftlichem Entdeckergeist, künstlerischem Genie, halsbrecherischem Abenteuer und tiefem Freiheitsdrang ist. Leider trüben der zerstückelte Aufbau, die vielen Gegensätze und das abgewürgte Ende das Bild und so bleibt die Frage, was uns dieser Roman eigentlich sagen will!

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