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SternchenBlau

Posted on 16.12.2020

Pars pro toto Bis zum Lesen dieses Buches habe ich mich mit dem Aal noch nie wirklich beschäftigt. Ich wusste, dass es ihn gibt und dass beim Braten in der Pfanne noch zucken kann. Aber ansonsten? Dieses Buch hätte ich nie in die Hand genommen, wenn ich nicht von einer ganz lieben Lesenden diesen Tipp bekommen hätte. Und nachdem ich Buch und Hörbuch mit Begeisterung gelesen haben, bin ich wirklich froh darum. Man könnte bei Titel und Thema meine, dieses Buch behandelt Zoologie und Biologie, aber „Das Evangelium der Aale“ ist so viel mehr: Wissenschafts-, Sozial und Kulturgeschichte, ein Evangelium dafür, wie sehr der Mensch seine Umwelt verstehen möchte – und wie sehr wir sie doch leider zerstören. Alles zusammen mündet in der Suche nach dem Sinn des Lebens. Denn der Aal steht bei Patrik Svensson als „pars pro toto“, das Teil für das Ganze. In jedem kleinsten Lebewesen können wir so viel entdecken und so viel lernen. Was verlieren wir, wenn wir nur eine Art verlieren? Und gerade sterben sie zu Hunderten und Tausenden. Auch der Aal. „Die Aale kümmerten sich nicht um die Aalfrage.“ Aale, so wird ganz zu Beginn des Buches schon verraten, schwimmen 6.000 Kilometer zu ihrem Laichplatz in der Sargasso-See. Obwohl das auf der ersten Seite klar ist, lesen sich die nächsten 80 Seiten dennoch wie ein Wissenschaftskrimi. Denn seit Aristoteles beschäftigten sich zahlreiche Wissenschafter:innen mit der Aalfrage. Zunächst dachten sie gar, der Aal reproduziere sich einfach aus sich selbst. Viele Forschende kannte ich nicht. Sigmund Freud ist aber vermutlich allen ein Begriff. Und Freud forschte ebenfalls an der Aalfrage, allerdings ergebnislos. Ich fand es so pointiert wie witzig und stimmig, wenn Svennsson Freuds Frauenaversion auf sein Scheitern bei der Aalfrage zurückführt. Auch Freuds Misogynie wird deutlich. Svenssons Buch ist auch eine große Verbeugung für dem Forscherdrang. Wundervoll fand ich, wie er die Meeresbiologin, Umweltaktivistin und Autorin Rachel Carson hervorhebt. Doch dann hatten die Menschen einen Großteil der Aalfrage gelöst. (Auch, wenn sich das im Verlauf des Buches als Trugschluss herausstellen wird, der Aal hat auch jetzt noch längst nicht alle seine Geheimnisse preisgegeben.) Aber immer, wenn ich im Verlauf des Buches dachte: Was soll denn jetzt noch kommen?, dann erfand sich das Buch neu.  „Seine Geschichten waren auch meine.“ In dieser Geschichten über den Aal mischt der Autor seine ganz persönliche Geschichte. Von Kindheit an war er mit seinem Vater zum Aalangeln gegangen – und das war der tiefste Ausdruck der Verbundenheit zwischen den beiden. Auch, wenn sich Svensson von seinem Vater im Studium auch entfremdet. Wie hier nebenbei mit ein paar Sätzen Klassismus skizziert wird, und so viele andere Themen wie die Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards durch die schwedische Sozialpolitik nach Ende des 2. Weltkrieges, das macht dieses Buch zu etwas Besonderem. Bei dem persönlichem Teil darf ich aber eine Content Note nicht vergessen. CN / Content Note: Tötung von Tieren, Tierversuche, sehr nüchterne und deutliche Schilderungen Ein ganzes Kapitel heißt sogar: „Tiere töten“. Die Ambivalenz dieses Vorgangs wird deutlich. So sollte Svensson als Kind beim Schlachten helfen. Doch kurz, bevor sie hineingehen sollen, sagt der Vater zu ihm: „‚Ich glaube, es ist besser, wenn du zu Oma reingehst.‘ Der Ernst in seiner Stimme überraschte mich, und ich fühlte mich ein klein wenig herabgesetzt und enttäuscht. Doch als er in den Statt trat und die Tür hinter sich zuzog und mich allein auf dem Hof zurückließ war ich vor allem erleichtert.“ Man könnte nun meinen, dass Svensson mit seiner Familiengeschichte, die Herkunft als solches, den Determinismus aufgrund der Biologie in den Vordergrund rückt. Aber genau das tut er erfreulicherweise nicht. Familie ist das, was wir daraus machen. Das Leben auch. Das bleibt unbestimmt, genau wie der Aal. Fazit Wundervolles Buch, das Poesie und Fakten, Literatur und Wissenschaft verknüpft. 5 von 5 Sternen.

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