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SternchenBlau

Posted on 16.12.2020

Verlust, Wehmut und Schuld Schlinks „Der Vorleser“ habe ich als Teenager geliebt und gleich mehrfach gelesen. Es ist aber eines der Bücher, bei denen ich nun, mehr als 20 Jahre später, das erneute Lesen scheue. Würde es mich heute noch immer so begeistern? Als jetzt kürzlich „Abschiedsfarben“ erschienen ist, wollte ich endlich meine Schlink-Erfahrung auffrischen. Und ich glaube, was mich damals an „Der Vorleser“ so begeistert hat, weiß ich auch an diesem Kurzgeschichten-Band zu schätzen. Ich habe die Geschichten sehr gerne gelesen. Schlink schafft es, dass ich bei fast jeder Geschichte auf die Überraschung gewartet habe, selbst wenn ich sie manchmal schon kommen sehen habe. Schmerzhaft wurde es jedes Mal, denn beim Abschiednehmen gibt es wohl immer Dinge, die Menschen bedauern. Und oft wurde es auch unbehaglich, wenn ich mit den Charakteren ganz nah mitgegangen bin. Schlink lässt uns ganz nah in den Kopf seiner Protagonist:innen eintauchen, ihr Gegenüber, ihre Mitmenschen bleiben ihnen und uns bis zu einem gewissen Grad immer ein Rätsel. Diese Distanz, die immer bleiben wird, ist an sich schon Wehmut behaftet, und diese zieht sich durch alle neun Geschichten Ich wollte zunächst jede Geschichte in ein, zwei Sätzen zusammenfassen, aber dann bemerkte ich, dass ich damit die Quintessenz vorweg nehmen würde. Also wähle ich hier einen ungewöhnlichen Weg und zitiere aus acht Geschichten ein paar Sätze, die vielleicht neugierig machen. Künstliche Intelligenz „Nicht, dass sie (unsere Freundschaft) die Belastung durch eine Enthüllung nicht ausgehalten hätte. Was ich seinerseits getan habe und worauf ich nicht stolz bin, wofür ich mich sogar schäme _ oder vielleicht muss ich mich nicht schämen, weil, was ich getan habe, nur menschlich war, aber lieber wäre mir doch, ich hätte es nicht getan…“ Picknick mit Anna „Ich nahm mein Telefon und gab unterlassene Hilfeleistung ein. Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Wer nicht Hilfe leistet, obwohl es erforderlich und zumutbar ist. Ich habe Anna weiß Gott geholfen. Und ich habe es gerne getan.“ Geschwistermusik „Er hatte kein Geld fürs Kino, fand selbst, dass er nicht mithalten konnte, und schüttelte lachend den Kopf. Aber Susanne ließ sich nicht nehmen, dass er anders, besonders sei. Sie konnte wunderbar großzügig sein, wenn sie mit Menschen spielte.“ Das Amulett „Er hatte damals gemeint sie müsse ihn verstehen und trösten wie die Mama den Buben, der ein Schlamassel angerichtet, es aber nicht böse gemeint hat. Was für eine Erniedrigung, sie nicht als Frau zu sehen, sondern zur Mama zu machen! Nein, sie würde ihn nicht treffen.“ Der Sommer auf der Insel „Er hatte bei seinen Besuchen auch bemerkt, dass die Eltern der Mutter reicher waren als die des Vaters. Dies waren also nicht Vater-, sondern Mutterferien. Beim Essen ging es denn auch zu, wie es mit dem Vater nie zuging; er durfte bestellen, worauf der Lust hatte, und Mutter trank ein Glas Wein.“ Daniel, my Brother „In ihm stieg ein Zorn auf, der ihn erschreckte, ehe er ihn überwältigte und fürs Erschrecken keinen Raum mehr ließ. Er ließ für nichts mehr Raum, keine Trauer, kein Mitgefühl mit den Kindern und Enkelkindern, keine Verbundenheit mit den anderen, die mit ihm am Grab standen.“ Altersflecken „Ein alter Freund, Psychiater und Neurologe, der er von der Überwältigung durch die Erinnerungen erzählte, diagnostizierte eine Altersdepression. ‚Soll ich dir einen Aufheller verschreiben?‘ Er schüttelte den Kopf. Aufheller? Statt einer Sonnenbrille mit dunkleren eine mit helleren Gläsern.“ Jahrestag „Der Altersunterschied – nein, er war nicht der Chef und sie die Assistentin oder er der Professor und sie die Studentin oder er der Arzt und sie die Krankenschwester. Sie war mit ihren dreiunddreißig Jahren erfolgreiche Journalistin, er mit seinen einundsiebzig erfolgreicher Autor historischer Bücher.“ Bei drei Geschichten hatte ich allerdings eine ganz eigene Form des Unbehagens. Der Blick eines älteren Mannes (einmal als Figur, einmal aus Autorensicht) auf das Erwachen der Sexualität ist irgendwo befremdlich. In der dritten Geschichte wird dies nochmal deutlicher Teil der Handlung. Ich weiß dennoch nicht genau, wie ich das einordnen soll, dieses Unbehagen. Aber Schlink hat ein feines Gespür, welche Grenze darin liegt. So schreibt er in der letzten Geschichte: „Wie konnte er ihr geben, was ihr das Leben mit dem Älterwerden nicht ohnehin geben würde? Er konnte ihr nichts geben, er konnte ihr nur nehmen.“

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