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Buchdoktor

Posted on 15.12.2020

Andrea Hirata hatte als Kind zwei Träume, er wollte entweder ein erfolgreicher Badminton-Spieler oder ein berühmter Autor werden. Nur bei der Post arbeiten wollte der Autor dieses biografischen Romans nie; denn er fand, dass der Postbeamte seines Dorfes auf der Insel Belitung zu viel arbeitete. Ikal, Hiratas Icherzähler, wird mit nur acht Mitschülern und einer Mitschülerin in einer winzigen muslimischen Dorfschule eingeschult. Die Mindestschülerzahl für die Klasse kommt nur zustande, weil mit den Kindern der 15-jährige geistig zurückgebliebene Harun eingeschult wird. Unterrichtet wird in einem wackeligen Schuppen von einem berufserfahrenen Lehrer und der 15-jährigen Muslimah Hafsari, die selbst gerade erst die Schule abgeschlossen hat. Ikal erfährt erst viel später, dass das junge Mädchen, achtungsvoll "Bu Mus"genannt, ohne Bezahlung arbeitet. Beide Lehrer sind ihren Schülern Vorbild und Inspiration; sie fühlen sich nicht nur der Bildung, sondern auch der Erziehung ihrer Schüler verpflichtet. Mit Stolz auf die Reichtümer der Natur und mit erstaunlicher Selbstsicherheit, die ihm die lange Geschichte der Malaien gibt, berichtet Ikal von seiner Heimatinsel. Der Reichtum der Zinnminen nutzte in erster Linie den niederländischen Kolonialherren, die außer Zinn weitere Bodenschätze abbauten. Als die Kolonialherren die Insel verlassen, bleibt die feudale Kasteneinteilung der Bevölkerung. Die Bewohner der Insel arbeiten im Bergbau oder als Fischer ohne eigenes Boot. Traditionell werden Kinder von Kulis wieder Hilfsarbeiter ohne Schulbildung, weil die Familien den Verdienst ihrer Kinder zum Leben brauchen. Bildung scheint sich nicht zu lohnen, wenn selbst ein Lehrer weniger verdient als ein Hilfsarbeiter. Im Rückblick wirkt es wie ein Wunder, dass im Jahr von Ikals Einschulung gleich mehrere dieser einfachen Familien ihre Kinder in der Schule anmelden. Andrea Hirata widmet jedem seiner Mitschüler und dessen Zukunftsträumen ein eigenes Kapitel. Besonders beeindruckt ist der lockenköpfige Erzähler Ikal von seinem Mitschüler Lintang, der jeden Tag kilometerweit zur Schule radelt, an Mangrovensümpfen entlang, in denen mannsgroße Krokodile leben. Lintang verblüfft die anderen Kinder nicht nur durch seine ungewöhnlich Intelligenz, sondern stärker noch durch seine Liebenswürdigkeit und seine respektvolle Haltung anderen gegenüber. Wie viele der Mitschüler ist Lintang das erste Kind in seiner Familie, das Lesen und Schreiben lernt. Bedeutungsvoll für Andrea Hiratas Jahrgang ist in mehrerlei Hinsicht das auf dem Titelbild des Buches zu sehende Fahrrad, mit dem zwei Schüler vom Kreidekaufen im Dorfladen zurückkehren. Ikals Zusammentreffen mit A Ling, der Tochter des chinesischen Kaufmanns, in deren sorgfältig manikürte Fingernägel er sich spontan verliebt, bringt dem Jungen seine erste Begegnung mit einem Roman: "Der Doktor und das liebe Vieh". Was wie ein Märchen begann, trifft spätestens dann auf die harte Realität, als Bu Mus Schüler noch vor dem Ende ihrer Schulzeit zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen müssen. Der Erfindungsreichtum mit dem eine junge indonesische Lehrerin die unterschiedlichen Persönlichkeiten und Talente ihrer Schüler fördert, wird kaum einen Leser unberührt lassen. Andrea Hirata schildert auf verschmitzte Art das Zusammenleben der Malaien, Chinesen und Sawang auf seiner Heimatinsel, wo jede Volksgruppe ihren Individualismus und ihren Glauben bewahrt. Durch ein Stipendium der EU wird schließlich aus dem lernbegierigen Erstklässler Ikal der inzwischen in mehrere Sprachen übersetzte Autor, dem wir ein trauriges wie ermutigendes Buch über den unstillbaren Hunger nach Bildung verdanken. (22.1.2013)

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