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Buchdoktor

Posted on 15.12.2020

Kinder wie Jaffy Brown lernen im London des 19. Jahrhunderts auf der Straße fürs Leben. Der Achtjährige teilt sich mit seiner Mutter ein Zimmer mit zwei Prostituerten, für die er gegen Bezahlung Botengänge übernimmt. Schmutzig, hungrig und barfuß sucht der Junge in den offenen Abwasserkanälen nach Penny-Stücken. Über dem Viertel nördlich der Themse, das später East End genannt wird, hängen die Gerüche der Gerbereien wie eine Glocke. Jaffy wird mitten auf der Straße von einem gewaltigen bengalischen Tiger geschnappt und ein Stück mitgeschleift. Dieses (historisch belegte) Ereignis führt zur Bekanntschaft des Jungen mit dem Tierhändler Mr Jamrach, der Jaffy Arbeit in seiner Menagerie verschafft (die ebenfalls ein historisches Vorbild hat). Das Mistschaufeln übernimmt Jaffy zusätzlich zu seinem Job als Schankjunge im Spoony Sailor. Vom Besitzer des Pubs erhält Jaffy ein Paar Schuhe - vermutlich die ersten seines Lebens. Jaffys Kollege in Jamrachs Menagerie ist Tim Linver. Vom ersten Tag an kann der Junge sich darüber aufregen, dass Tim nur arbeitet, wenn der Chef gerade hersieht und trotzdem von beiden den besseren Job im Büro ergattert. Jaffy hegt erbitterte Eifersucht gegen Tim und ist dennoch fasziniert von dessen Entschluss zur See zu fahren wie seine Brüder. Charles Jamrach stattet im Auftrag eines betuchten Kunden die "Lysander" für eine Expedition aus, auf der einer der letzten Wale gefangen und aus Indonesien ein "Drache" nach England gebracht werden soll. Noch niemand hat das Tier, eine Art Waran, gesehen, aber Seeleute berichten, dass sie jemanden getroffen haben, der jemanden kennt, der das unheimliche Wesen gesehen hat. Jaffy heuert als Fünfzehnjähriger auf der Lysander an und entdeckt, dass er sich wohl schon seit der Zeit im Mutterleib nach dem Meer gesehnt haben muss. Voller Bewunderung sieht er zu den wenigen erfahrenen Seeleuten an Bord auf, wie zu Dan, der sich auf den Azoren in einer fremden Sprache verständigen kann. Die Beziehung zu Tim bleibt von Jaffys Eifersucht geprägt, der überzeugt ist, der bessere Seemann zu sein. Die Jagd auf den Waran ist kaum weniger gefährlich und blutrünstig als der Fang des Wals. Auf der Heimreise gerät die Lysander in einen heftigen Sturm, und die Mannschaft erlebt einen Schiffbruch, der den Erlebnissen der Besatzung des Walfängers Essex (1820) nachempfunden ist. In dieser Geschichte gibt es keine Helden, es geht nur darum zu überleben, ohne dabei wahnsinnig zu werden. "Alldies ist schon sehr lange her ...", mehrere kurze Einschübe verdeutlichen, dass der Erzähler Jaffy inzwischen am Ende seines Lebens seine Erinnerungen zum Besten gibt. Nach seiner Rettung hat er schließlich in relativer Sicherheit in London sein Auskommen als Zeichner gefunden. Die Welt der Seefahrt und des Walfangs lässt Carol Birch ihren Jaffy sehr nüchtern und in drastischem Jargon schildern. Die Fabulierlust der Autorin hat mich beeindruckt, mit der sie auf nur zwei Seiten die Atmospähre im London des Jahres 1857 hervorzaubert. Jaffys Reise verläuft längst nicht so exotisch wie das Abenteuer mit dem Tiger vermuten lässt, auch die erneute Aufarbeitung des Untergangs der Essex konnte mich nicht besonders fesseln. Dennoch war Jaffys Entwicklung vom barfüssigen Kind, das durch die Fussbodenritzen des Hauses die Themse blitzen sieht, zum weitgereisten Seemann die passende Unterhaltung für ein gemütliches Lesewochenende. ----- Textauszug "Mittlerweile war es dunkel, und das Feuer unter den Trankesseln brannte schon. Rainey und Comeragh standen auf dem Schneidgerüst, der so genannten Flennstelling, und befestigten einen Haken hinter der Vorderflosse. Die Winde wurde in Gang gesetzt, und er wurde wie ein Apfel geschält, wurde langsam, wie ein Schwein am Spieß, solange gedreht, bis das Decksstück, breit wie ein Doppelbett und so lang, wie ein Haus hoch ist, bluttropfend von der Takelage hing." (S. 134)

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