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Buchdoktor

Posted on 11.12.2020

Amy Liptrots Mutter kann ihrem Mann noch ihre neugeborene Tochter zeigen, bevor er von der Hauptinsel der Orkneys aufs schottische Festland in eine psychiatrische Klinik ausgeflogen wird. Der verstörende Prolog zu Liptrods biografischem Roman zeigt, zwischen welchen Extremen die Autorin aufgewachsen ist. Ihre Eltern stammten nicht von den Orkneys und wagten dennoch eine Existenzgründung als Schafzüchter in der Nähe des Steinzeitdorfs Skara Brae. Amy und ihr jüngerer Bruder verlebten eine idyllische Kindheit zwischen einer extrem religiösen Mutter und einem seit seiner Jugend manisch-depressiven Vater, die spätestens mit Amys Pubertät ein abruptes Ende findet. Amys Traum von Komfort, Glamour und einem Leben in der Großstadt endet in Alkoholabhängigkeit mitten in der Londoner Künstler- und Musikerszene. Früh ahnt sie, dass diese Szene ihr Verderben sein wird. Nach einer anstrengenden ambulanten Therapie kehrt Liptrot schließlich auf die Inseln zurück, um mit einer selbst verordneten Prüfung in Einsamkeit ihrer Sucht zu trotzen. Anfangs zählt sie die Tage, die sie ohne Alkohol übersteht. Erst die heimatlichen Inseln lassen Liptrot die Gemeinsamkeit von Manie und Sucht in ihrer Familienbiografie erkennen. Die Arbeit auf der Farm vermittelt Amy wieder Selbstachtung; schließlich hat sie Erfahrung darin, seit die Kinder in Krankheitsphasen des Vaters gemeinsam mit der Mutter den Hof managten. Eine befristete Arbeit als Vogelforscherin zeigt Amy als überraschend kompetente Expertin in Geschichte und Ökologie der Inselgruppe, der ich von diesem Punkt an leidenschaftlich wünschte, dass sie auf den Inseln eine Lebensgrundlage finden würde. Die titelgebenden Nachtlichter sind leuchtende Nachtwolken (NLC), ein neu entdecktes meteorologisches Phänomen, mit dem Amy sich auf der Insel befasst. Liptrots Suche nach den Spuren einer belasteten Kindheit fügt eine schonungslose Alkoholiker-Biografie mit ihrer kompetenten Bestandsaufnahme zusammen vom aktuellen Leben auf einer abgelegenen Inselgruppe. In Zeiten des Internets und der Energiegewinnung aus Wasser- und Windkraft könnten nach einer Phase der Abwanderung die Inseln in Schottlands hohem Norden zukünftig wieder mehr Menschen Arbeit bieten. Die schlüssige Darstellung regionaler Traditionen und ökologischer Zusammenhänge bis zu Anekdoten über Schiffswracks und Strandgut fügen sich zum zeitgemäßen Bild eines Insellebens an Europas nordöstlichem Rand. Ganz ohne Romantisierung und Larmoyanz kann Amy Liptrots Biografie einer Inselbewohnerin Naturliebhaber, Schottlandfans und Biografienleser gleichermaßen fesseln.

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