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Buchdoktor

Posted on 11.12.2020

Für J.M.G le Clézio und seinen älteren Bruder wurde ihr abwesender Vater irgendwann zum Afrikaner. Wenn einem stets erzählt wird, der Vater arbeite in Nigeria als Arzt und könne wegen des Krieges nicht nach Frankreich zu Besuch kommen, kann man als Kind durchaus Zweifel an den Aussagen der Erwachsenen entwickeln. Le Clézios Vater stammte von der Insel Mauritius (das 1810–1968 zum britischen Weltreich zählte) und studierte in England Medizin. Aus einer momentanen Verärgerung über die britische Upper Class heraus meldet le Clézio senior sich spontan als Arzt für den Kolonialdienst in Guayana, später arbeitet er in Kamerun und Nigeria und verbringt sein gesamtes Berufsleben im Ausland. Seine Frau, die seine Cousine ist, lernt er in Kamerun kennen. Er wird nur zu seiner Hochzeit und zur Geburt seiner Kinder nach Frankreich kommen. 1948, als le Clézio 8 Jahre alt ist, reist die Mutter mit den Söhnen zu einem Besuch nach Nigeria. An diese Zeit pflegt der französische Autor eine in strahlendes Licht getauchte Erinnerung, was jedoch nicht für die übrige Biografie seiner Eltern gilt. Im Rückblick empfindet le Clézio die Ankunft in Afrika als seinen ersten Schritt ins Erwachsenenleben. Der Sohn erlebt seinen Vater schon bei diesem Besuch als verbrauchten und verbitterten Mann, der lebenslang Enttäuschungen eingesteckt und darüber geschwiegen hat. Vater le Clézio war als einziger Arzt für Tausende von Menschen zuständig, hat lebenslang gegen Amöbenruhr, Bilharziose und Pocken gekämpft und muss im Alter erleben, dass der Staat Nigeria ihn um seine Pension betrügen will. Im Rückblick des erwachsenen Autors überlagern sich die Erzählungen der Erwachsenen aus der Zeit vor dem Besuch mit seinen eigenen Bildern von Afrika. Heute kann er in bewundernswert versöhnlicher Art die Ereignisse seiner Kindheit aus der Perspektive seiner Eltern sehen. Für die Kinder unverständlich, folgt ihr Vater einer eisernen militärischen Disziplin, die ihm in Afrika Halt gibt und die er nun gegenüber den Söhnen durchsetzen will. Doch wenn der Vater sich auf den Weg zum Krankenhaus gemacht hat, werfen die Jungen die vom Vater vorgeschriebenen Wollstrümpfe und Schuhe weg, um gemeinsam mit den afrikanischen Kindern durch das Gras der Savanne zu rennen. Aus der Beengtheit einer winzigen Wohnung im sechsten Stock in Frankreich befreit und bisher nur von der Mutter und der sehr nachsichtigen Großmutter erzogen, löst das barfüßige Losrennen bei den Jungen ein überwältigendes Gefühl der Freiheit aus. Wenn man sich der Gefahren durch Krankheiten und giftige Tiere bewusst wird, deren Folgen der Vater als Arzt täglich zu behandeln hat, stellt sich das Beharren auf feste Schuhe natürlich ganz anders dar. Wenn le Clézio nicht den Nobelpreis für Literatur erhalten hätte, wäre ich vermutlich nie auf seine Bücher aufmerksam geworden – und das wäre ein Verlust gewesen. Auf knappen 124 Seiten schreibt le Clézio aus der Distanz des Erwachsenen eine Biografie seines bemerkenswerten Vaters und analysiert zugleich sein eigenes Verhältnis zu Afrika. Bewundernswert finde ich an diesem Buch das Maß an Selbstreflexen und mit den Augen eines Kindes sieht die Welt völlig anders aus. ----- Zitat „Die Tage, an denen wir durchs hohe Gras in Ogoja rannten, waren die ersten einer neu gewonnenen Freiheit. Die Savanne, die Gewitter, die jeden Nachmittag ausbrachen, die sengende Sonne auf unseren Köpfen und diese zu starke, fast karikaturistische Präsenz der Tierwelt, all das erfüllte unsere kleine Brust und ließ uns auf die Termitenhügel losstürmen, diese Festungen die schwarz in den Himmel ragten. Ich glaube, dass ich seit jener Zeit nie wieder so einen starken Drang verspürt habe. Ein solches Bedürfnis, zu dominieren und mich zu messen. Es war nur ein kurzer Moment in unserem Leben, ein unerklärlicher, fast vergessener Moment, der keine Reue aufkommen ließ und kein Konsequenzen hatte.“ (Seite 32)

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