Buchdoktor
Als Jasmijn 1997 völlig überfordert vom Verkehrsgewühl im Fahrunterricht scheitert, sind Autismus und das Asperger-Syndrom längst nicht mehr unbekannt. Wundern könnte man sich allein darüber, dass erst Fahrlehrer Jaap den Zusammenhang zwischen Reizüberflutung und Jasmijns Problemen erkennt. Die junge Frau ist zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt und erzählt im Rückblick von einer Kindheit mit speziellen Bedürfnissen, die sie anderen Menschen nur schwer begreiflich machen konnte. Schon die Vorschule war für Jasmijn eine Tortur; für sie war es dort zu laut, zu grell, zu farbig. Erwachsene wollten von einem, dass man sie ansieht, ihnen antwortet und sie sogar anfasst! Es war schon anstrengend genug sie selbst zu sein, und dann sollte sie noch Gespräche mit Fremden führen. Was in den Köpfen anderer Menschen vorging, blieb dem Kind lange ein Rätsel. Für sich genommen, wirkt jedes Bedürfnis Jasmijns nach Logik, Ruhe und verlässlicher Routine plausibel, in der Summe aller für sie unerträglichen Ereignisse kann sie kaum am normalen Alltagsleben teilnehmen. Heute wäre es selbstverständlich, wenn ein Kind fordert, frei vom Zigarettenrauch der Eltern aufzuwachsen, damals wirkte Jasmins Wunsch exzentrisch. Nichtraucher hatten sich Rauchern unterzuordnen, so wie ein Schulkind sich an die Gemeinschaft anzupassen hatte. Erwachsene beschlossen, was gut für Kinder ist. Die Erwartungen, wie Jasmijn sich unter Verwandten oder unter Kindern benehmen sollte, überforderten sie so heftig, dass sie bereits als Kind schwere Migräneanfälle erlitt. Migräne kannte Jasmijns Mutter, weil ihr Vater/Jasmijns Opa daran litt, und konnte damit umgehen. Die Einmischung Außenstehender in Jasmijns komplizierte Welt verweigerte die Mutter geduldig, kam aber offenbar nicht auf die Idee, auch nur für die Migräne ärztliche Behandlung zu suchen. Dass noch Anfang der 80er Lehrer sich damit zufrieden gaben, wenn Eltern ihr auffallend besonderes Kind nicht genauer untersuchen lassen wollen, wirkt befremdlich. Nur mit ihrer Hündin Senta als Gefährtin entwickelt Jasmijn sich gemessen an ihrer Behinderung erfreulich, auch wenn ihr die Interessen Gleichaltriger lange ein Rätsel bleiben. Zum seltenen Glücksfall entwickelt sich in der Schule ihre tiefe Freundschaft zur Banknachbarin Kirstin, die ähnlich wie Jasmijns Mutter geduldig akzeptiert, dass das Mädchen in einer eigenen Welt lebt. Judith Vissers Icherzählerin berichtet gradlinig in kurzen Kapiteln und in chronologischer Reihenfolge. Die 600 Seiten lassen sich flott weglesen. Unvergessen bleiben werden mir Jasmijns Mutter, die bewundernswert stoisch Einmischung Außenstehender abwehrt, und Jasmijns zwingende Logik, mit der sie die Welt sieht. Man könnte sich durchaus kritisch fragen, wie weit sich ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen seiner Umwelt anpassen muss und wie weit andere freiwillig auf dessen Besonderheiten Rücksicht nehmen könnten.