Buchdoktor
Maria stammt aus Galicien und studierte in Deutschland Medizin. Sie lebte das Leben ihrer verstorbenen Schwester Adela, indem sie mit Adelas Papieren und Zeugnissen deren Studienplatz antrat. Doch irgendetwas muss schief gelaufen sein, von ihrem Partner lebt Maria getrennt und sie arbeitet inzwischen als Einzelwache im Krankenhaus. Maria scheint Adelas Leben wie ein schlecht passendes Kleidungsstück getragen zu haben, bis sie spontan beschließt, nach 5 Jahren wieder in ihre Heimat zu Besuch zu fahren. Bevor sie in ihrem Dorf ankommt, muss sie ihre Gedanken ordnen. Adela war für sie eine Art ältere Überschwester, mit einem sensationell guten Gedächtnis und stets perfekten Schulleistungen. Sie hätte studieren können, was und wo sie wollte. Jede Familie wäre in der Wirtschaftskrise froh gewesen, wenn einem ihrer Kinder im Ausland Erfolg gewinkt hätte. Doch dann kam die Beziehung der Schwestern zu Mateu, Adelas Tod und danach der Kontaktabbruch Marias. Zuhause findet Maria immer noch die Sprachlosigkeit vor, die beide Töchter aus dem Haus getrieben haben könnte. Maria ist sich sicher, dass ihre Mutter Irene sie nicht verstehen wird, was sie auch aus Deutschland zu erzählen hätte. Irene idealisiert die ältere Tochter über deren Tod hinaus. Vater Iago war seiner Frau im Gespräch noch nie gewachsen und schweigt sich aus, wie er es früher auch tat. Mateu findet, Maria hätte besser ganz wegbleiben sollen, ihre Eltern hätten sich gerade erst wieder gefangen seit Adelas Tod. Die Dialoge wirken doppeldeutig, verbergen etwas, das Außenstehende vermutlich nur mithilfe eines Vermittlers darin erkennen können. Die Icherzählerin Maria kann zwar Dinge humorvoll auf den Punkt bringen, hält sich jedoch lange damit zurück, ihre komplizierte Familiengeschichte preiszugeben. Es ist eine Geschichte von Lebenslügen und vorwurfsvollem Schweigen. Ein Rückblick in Irenes Jugend lässt ahnen, wie dieses Team der Sprachlosen einmal zustandekam. Hinter einem Buchcover, das unglücklicherweise einen leichten Sommerroman verspricht, entfaltet sich eine ernste, bedrückende Erzählung über den Tod einer jungen Frau an der Schwelle zum Erwachsenwerden. In sehr kurzen Kapiteln und vielen Sprüngen zwischen Gegenwart und Vergangenheit gibt die Erzählerin nur gerade so viel von sich preis wie nötig. Ein Buch, das mich lange beschäftigt hat – wie Maria kommt es in einem fremden Kostüm, das ich nicht passend finde. ----- Zitat „Es gibt eine Zeit, in der das Jahr in der Luft hängt. Je nachdem, zu welcher Seite es sich neigt, kann es so oder so ausgehen. Alles ist offen. Noch ist unentschieden, ob der Sommer zurückkehrt oder ob endgültig Winter wird. Die Nächte riechen nach Holzfeuer und die Tage beginnen frisch und klar. Die feuchten Wiesen sind schon kalt, das Abendrot brennt. Noch kann das Jahr umkehren. Und dann, dann fällt das erste Blatt und segelt durch Nebelschleier aufs Meer hinaus. In Galicien gibt es kein Wort dafür. Aber es sollte eins geben. Für den Moment kurz bevor das erste Blatt fällt, für den Augenblick vor der Endgültigkeit. …“ (S. 148)