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Der Anfang: «Hätte jemand meine Eltern nach ihrer Meinung über den Zweiten Weltkrieg gefragt, so hätten sie ohne zu zögern geantwortet, es sei die düsterste Zeit gewesen, die sie jemals erlebt hatten. Nicht etwa wegen des zweigeteilten Frankreich, der Lager von Drancy und Auschwitz, der Ausrottung von sechs Millionen Juden, noch wegen all der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die immer noch nicht vollständig gesühnt sind, sondern weil ihnen das für sie Wichtigste sieben endlose Jahre verwehrt war: ihre Reisen nach Frankreich. Da mein Vater ehemaliger Beamter und meine Mutter noch im Dienst war, hatten sie regelmäßig Anspruch auf einen Urlaub »im Mutterland« mit ihren Kindern. Frankreich war für sie keineswegs der Sitz der Kolonialmacht. Es war wirklich das Mutterland, und Paris die Lichterstadt, die allein ihrem Leben Glanz verlieh.» Die Kindheitserinnerungen der Nobelpreisträgerin Maryse Condé aus Guadeloupe aus den vierziger und fünfziger Jahren sind in diesem Band als Kurzgeschichten erschienen. Sie wächst in einer Familie der schwarzen Oberschicht von Pointe-à-Pitre auf, der größten Stadt Guadeloupes. Klassen- und Rassenkonflikten gehören zu ihrem Alltag während der zu Ende gehenden Kolonialzeit, und sie rebelliert gegen die Zwänge ihrer Gesellschaft, gerät dabei in Konflikt mit ihren Eltern. Ihre Eltern fühlen sich als vollwertige Franzosen, das Heimatland ist Frankreich – obwohl sie in der Kolonie Guadeloupe geboren sind, hier ihre familiären Wurzeln haben. Maryse fühlt sich in der «Hauptstadt» Paris nicht wohl. Im Nachkriegs-Paris sehen die Leute anders aus, nämlich weiß, aber nicht nur wegen der Hautfarbe fällt die Familie auf. Ihr Vater, den sie als «gut erhaltener ehemaliger Frauenheld» beschreibt, und die Mutter, mit «kreolischem Schmuck reich behängt», eine Familie mit acht Kindern, «aufgeputzt wie Reliquienschreine». Sie werden angeglotzt und bewundert. Als wäre dies nicht genug, werden sie immer wieder gedemütigt – sie, die Franzosen: «Wie gut Sie französisch sprechen!› Meine Eltern empfingen das Kompliment, ohne eine Miene zu verziehen oder zu lächeln, und beschränkten sich auf ein Nicken. Sobald die Kellner den Rücken gekehrt hatten, riefen sie uns zu Zeugen auf: ‹Wir sind aber doch genauso Franzosen wie sie›, seufzte mein Vater. ‹Französischer›, trumpfte meine Mutter heftig auf. Zur Erklärung fügte sie hinzu: ‹Wir sind gebildeter. Wir haben bessere Manieren. Wir lesen mehr. Manche von ihnen sind nie aus Paris hinausgekommen, während wir den Mont-Saint-Michel, die Côte d’Azur und die Baskenküste kennen.» Kurzgeschichten über Herkunft und Identitätssuche, Anekdoten die genau die Realität abbilden, verdeutlichen. Maryse Condé berichtet von ihren Eltern, die französischer sein wollen als die Franzosen. Aber auch in der Karibik ist man «anders» – legt Wert darauf: Ihre Eltern gehören zu den «Grands Nègres»: Ihre Mutter ist «französisch», trägt keine weiten Gewänder, kocht kein Wurzelgemüse für die Kinder, erzählt keine kreolischen Geschichten, sondern arbeitet als französische Beamtin, wie auch der Vater Beamter ist. Sie versuchen, sich abzugrenzen von den Kreolen, den einfachen Menschen – sie sind ja Franzosen. Maryse beobachtet diese Seite ihrer Eltern – und gleichzeitig den Rassismus, der ihnen in Frankreich entgegenschlägt. Sie sucht ihre eigene Identität. Ihre überschaubare Welt, ihr zu Hause in Pointe-à-Pitre wird ihr zu begrenzt, zu einseitig, sie rebelliert gegen das «Französische», legt Wert und auf ihre schwarze Identität. Mit ihrer Mutter hadert sie – aber kaum an Bord des Schiffes nach Frankreich, um in Paris zu studieren, vermisst sie ihre Mutter unendlich. «Ist sie niedlich, die kleine Negerin?› Es war nicht das Wort Negerin, das sie verletzte. Es war der Tonfall!» Mit Leichtigkeit, klug erzählt, bringt Maryse Condé die grotesken Situationen auf den Punkt. Sie gehört zu den wichtigsten Autor*innen der Dekolonialisierungsliteratur der Karibik. Was bedeutet Kolonialismus für die Bevölkerung? In diesem Fall ist es der Franzose – der aber nie ein Franzose sein wird, so sehr er sich auch bemüht – beraubt seiner eigenen Identität. Geschichten, die pointiert sind, ein Lesevergnügen, weil sie nicht mit dem Zeigefinger daherkommen. Biografische Geschichten, die uns in eine Zeit versetzt, in die die Europäer Unglück auf andere Kontinente brachten, an denen viele Länder noch heute kranken: instabile Regierungen, wirtschaftliche Schwäche und ethnische Konflikte. Die Kolonien, besonders in Afrika sind oft künstliche und fremde Gebilde, in denen kleine Personenverbände und Ethnien zwangsmäßig zusammengefügt und kolonialisiert wurden. Maryse Condé lebte eine Zeit lang in Afrika, wo sie ihre afrikanischen Wurzeln suchte. Die rebellische Autorin wurde mit ihren politischen Romanen und Theaterstücken über Sklaverei, Afrika, über die Arroganz der Besitzenden und der Not der Schwachen bekannt. Ihr bedeutendstes Buch heißt «Segu», es ist ein historischer Roman über das heutige Mali, über Blüte und Untergang der mächtigen Stadt Segu am Niger: Der Islam dringt in Afrika vor, christliche Missionare und europäische Kolonisatoren kommen ins Land, der Sklavenhandel blüht. Maryse Condé, eine der wichtigsten Autorinnen der Frankophonie, wurde am 11. Februar 1937 in Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe geboren, studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne in Paris und lebte danach viele Jahre in Westafrika, unter anderem in Mali, wo sie zu ihrem Bestseller «Segu» angeregt wurde. Sie promovierte an der Sorbonne, arbeitete als Universitätsdozentin in Paris, Berkeley und Maryland wechselte sie 1995 an die Columbia University in New York. Sie erhielt 1988 den LiBeraturpreis, 1993 wurde sie als erste Frau mit dem Puterbaugh-Preis ausgezeichnet. Seit der Gründung 1997 bis 2002 hatte sie den Vorsitz des Center for French and Francophone Studies. Seit 2013 lebt sie im südfranzösischen Gordes. 2018, in dem Jahr, in dem der reguläre Nobelpreis für Literatur nicht vergeben wurde, erhielt sie für ihr Gesamtwerk den alternativen Nobelpreis, den New Academy Prize.