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mrsrabe

Posted on 9.12.2020

„Philip Marlowe…. Ermittlungen, steht in schwarzen Buchstaben auf dem Riffelglas und die Farbe blättert ab von der echt schäbigen Tür.“ Eine schäbige Tür, ein schäbiger Flur, ein schäbiges Büro. So wie das Büro hat der Privatdetektiv Philip Marlowe schon bessere Tage gesehen. Da beauftragt ihn die junge Orfamay Quest, angereist aus Manhattan, Kansas, ihren verschwundenen Bruder Orrin zu finden. In der heruntergekommenen Unterkunft, in der Orrin zuletzt gemeldet war, trifft Marlowe auf einen Geldeintreiber, einen versoffenen Hausverwalter und einen Fremden in Orrins altem Zimmer. Als Marlowe unverrichteter Dinge den Hausverwalter befragen will, findet er diesen ermordet, mit einem Eispickel erstochen, auf. Marlowe ist sich seiner eigenen Klientin nicht mehr sicher. Es wird zu seiner „Quest“, seiner Mission. Die Neugier und vor allem sein spezieller Ehrenkodex treibt ihn an, weiter Ermittlungen durchzuführen, auch wenn ihn Miss Quest an der Nase herumführt. „Ich behaupte ja nicht, dass Sie schon alles wissen, was sie wissen möchten…Die Sache ist nur, ich weiß nicht alles, was ich wissen müsste, um für Sie zu arbeiten.“ Raymond Chandler schrieb „Die kleine Schwester“ im Jahre 1949 und es ist eine sehr direkte Abrechnung mit der verlogenen Welt der Filmindustrie So führen Marlowes Schlussfolgerungen ihn aus der schäbigen Halbwelt von L.A. mitten in das glanzvolle Hollywood der 1940er Jahre. Der schöne Schein nur Illusion, hinter den Kulissen tobt ein Machtkampf um Geld und Karriere. Windige Mafiamobster mischen fleißig mit. Drohungen und Drogen, Vertuschung und Erpressung stehen an der Tagesordnung. Philip Marlowe ist kein richtiger Held, eher ein Ritter ohne Rüstung. Seit Chandlers Erstling „Der große Schlaf“ (1939) ist Marlowe nicht gealtert, bleibt immer etwa Mitte 30. Er ist einer der Prototypen des abgebrühten Ermittlers, hardboiled, lakonisch, zynisch. Ein einsamer Wolf, er raucht (heute dürfen das nur mehr die „Bösen“) trinkt nicht zu knapp, klopft Sprüche und Frauen ab. „Ach alle möglichen Frauen, die sich mir an den Hals werfen und in Ohnmacht fallen und geküsst werden wollen und so weiter. Ganz schön viel Action für einen durchgemängelten Schnüffler ohne Yacht.“ Ein politisch korrektes Bild muss beim Lesen außer Acht gelassen werden. Wir befinden uns Jahrzehnte vor #metoo. Chandler beschreibt genau, das was er sieht. Schöne Frauen, die sich als Dummchen gerieren, ihre Reize ausreizen, sich gerne von einem starken Mann umherführen lassen. Doch Vorsicht: So hilflos, wie sie alle tun, sind Chandlers weibliche Darstellerin bei weitem nicht. Chandlers Romane sind mit Sicherheit mit den Augen von damals zu lesen. Was aber bis heute Bestand hat, ist das „Vorbild Marlowe“ für unzählige Krimiautoren. Im Nachwort schreibt Michael Connelly, dass er jedes Mal, wenn er ein neues Buch beginnt, davor Kapitel 13 aus der kleinen Schwester liest. Wie Marlowe in diesem Kapitel über die Sinnhaftigkeit seines Tuns, dem ewigen Kampf gegen Privilegien, der Ungerechtigkeit und der Verwundbarkeit sinniert ist universell und zeitlos.

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