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Buchdoktor

Posted on 9.12.2020

Zwischen Miami und den Bahamas hat sich der Atlantik zurückgezogen; im Gegensatz zu allen Klimawandeltheorien ist dort eine Wüste entstanden. Wer es sich leisten konnte, hat die Stadt lange verlassen. Der Norden der USA scheint noch nicht von dem Phänomen betroffen zu sein. Weil Häfen nicht mehr angefahren werden konnten und Touristen ausblieben, brach die gesamte Lebensgrundlage der Region weg. Macht und Wirtschaftskraft liegen inzwischen bei wenigen Konzernen und Interessengruppen. Ein Pizzalieferdienst übernimmt mit seinen Fahrzeugen zugleich die Überwachung der Bevölkerung, ein Chemiekonzern sponsert Bildung und Unterhaltung und die Aufgaben der ehemaligen Polizei und Feuerwehr wurden quasi als Leiharbeit an private Ringervereine ausgegliedert. Von dieser privatisierten Staatsmacht haben sich Todesschwadronen abgespalten, die dem Sicherheitsbedürfnis der Bewohner ganz und gar nicht guttun. Händler und eine japanische Community überdauern erfolgreich in der Wüste und eine Truppe von verurteilten Triebtätern zieht obdachsuchend umher, weil sie die Stadt nicht verlassen dürfen. Die neu entstandene Wüste ist als Rohstofflagerstätte begehrt, Verteilungskämpfe um das Hoheitsgebiet sind zu erwarten. Für das zurückgebliebene Miami fehlt noch ein passender Begriff, es scheint eine Mischung aus Lebewesen, chemischer Reaktion und automatischen Prozessen zu sein. Eine ehemalige Stadt als Augmented Reality. Drängendste - zusammenhängende - Probleme in Guses dystopischem Szenario sind die Ungenießbarkeit des Wassers, eine Alligatorenplage und die Erhaltung der Bausubstanz; denn alle Gebäude wurden einmal auf Betonpfählen im Sumpf errichtet. In einem Hochhaus- und Geschäftskomplex wird als eSport ein Counterstrike-Turnier sattfinden, zu dem als Team Medusa eine Mannschaft aus Deutschland anreist. Die Ego-Shooter-Spezialisten wirken verunsichert, schließlich wurden sie vor der heruntergekommenen Stadt gewarnt. In dieser Welt scheint die Zeit in den 90ern stehengeblieben zu sein, als Kinder bereits für die Welt der Online-Spiele lebten, bevor sie richtig Lesen und Schreiben gelernt hatten. Die anreisenden Gamer wirken wie in der Kindheit steckengeblieben; ihren Lebensunterhalt bestreiten sie mit Preisgeldern. In der männlich dominierten Szene der Online-Spiele ungewöhnlich, hat sich die junge Robin seit frühester Kindheit mit der Aufwertung von Spielen durch Inhalte des realen Lebens befasst. Unter dem Arbeitstitel „Das Elend der Welt“ ist die Verschmelzung von Realität und Spiel Robins Lebensaufgabe. Sie will das schwarze Loch beseitigen, die Leere, die Spieler überfällt, nachdem ein Spiel durchgespielt ist und alle Herausforderungen gemeistert sind. Robin hat schon früh erfahren, dass andere ihren Gedankengängen nicht folgen; im Grunde ist Robin für ihre Welt überqualifiziert. Obwohl die Infrastruktur bereits zusammengebrochen ist, scheinen auch Arbeitskraft und Kompetenzen der anderen Bewohner allein für den Pizza-Lieferdienst gebraucht zu werden. Das Leben wirkt wie ein nicht endendes, von einem mächtigen Konzern gesponsertes Barcamp, solange niemand die Organisation des Alltags in die Hand nimmt. Wie Miami als gigantischer Lost Place funktioniert, wirkt nicht unbedingt logisch. Wenn das Wasser ungenießbar ist, müsste Wassergewinnung organisiert und finanziert werden. Wer dort Mehrwert erarbeitet und in den Wirtschaftkreislauf einbringt, ist mir nicht klar geworden. Selbst wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe, müsste der ausgezahlte Betrag vorher erarbeitet werden – von wem? Mehrere Handlungsstränge geben Einblick in die Clique um Robin, blicken zurück auf Robins persönliche Entwicklung und lösen das Rätsel, wer oder was eigentlich Hideo ist. Überwachungs-Protokolle und die Perspektive von Möbelstücken steuern weiterer Sichtweisen bei. Meist durch die Gamer-Brille gesehen, öffnet Guse seiner in den 80ern geborenen Generation einen Blick in die Zukunft. Was sie geschaffen, entdeckt und gesammelt hat, wird mit ihr verschwinden, seien es Examensarbeiten, Erfindungen, Spielstände oder Projekte. Alles, was man sich wünschen könnte, ist bereits beim Kauf veraltet oder wertlos. Von der Macht weniger Großkonzerne, dem beschränkten Horizont in der eigenen Blase, über Casting-Wahnsinn, Romanschreibende KI, das Framing durch Medien, politisch korrekt mäandernde Sprachhülsen - Guses Welt hält Lesern der Gegenwart gekonnt den Spiegel vor. Auch wenn mir für einen Umfang von 600 Seiten im Roman eine Spannungskurve gefehlt hat, erlebe ich Robin als faszinierende Protagonistin – über die Rolle von Frauen in der Gamer-Szene ist noch längst nicht alles geschrieben

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