Buchdoktor
Der Junge wird Little Dog genannt, weil man in asiatischer Tradition nicht durch Nennen seines Namens missgünstige Geister aufmerksam machen will. Als Erwachsener schreibt er einen Brief an seine Mutter Rose, von dem er nicht weiß, wie viel sie daraus erfahren wird. Rückblenden führen ihn in seine Kindheit kurz nach der Ankunft in den USA, als er für Rose dolmetschen soll, obwohl ihm für manche Erwachsenen-Angelegenheit schon im Vietnamesischen die Worte fehlen. Seine Mutter rackert sich für ihre Mutter und ihr Kind mit Knochenjobs ab. Der Junge scheint bereits früh zu spüren, dass Mutter und Großmutter sich opfern, damit er ein besseres Leben haben kann. Später werden Monarchfalter für ihn zum Symbol, die weite Wanderungen unternehmen und deren Nachfahren erst zum Lebensraum ihrer Eltern zurückkehren. Jedes Feuerwerk, jeder Spielzeugsoldat versetzen Rose wieder in den Krieg zurück. Ihre Erinnerungen an Vietnam - ein Alptraum, von dem man Kindern nicht erzählen sollte. In seinen Erinnerungen an Gewalt tritt der Erzähler aus der Ichperspektive heraus, wird zum distanzierten Beobachter eines Jungen, der Gewalt erleidet. Über PTBS und psychische Krankheiten weiß Little Dog damals noch nichts. Mit 14 nimmt er einen gut bezahlten Ferienjob bei der Tabakernte an - und verliebt sich in den Enkel des Farmers. Das Rudern seiner Kindheit zwischen zwei Sprachen, die er beide nicht vollständig beherrscht, kommt damit zu einem tragischen Höhepunkt. Im Vietnamesischen hatte es für Homosexualität keinen Ausdruck gegeben, bevor die Franzosen Vietnam besetzten. Um das Leben eines schwulen dunkelhäutigen Sohnes muss Rose in den USA nach seinem Outing nun fürchten, davon ist sie überzeugt. Als wäre seine Hautfarbe nicht auffällig genug und stets Anlass zur Frage gewesen, ob er adoptiert sei. Der epische Brief, an dem der junge Schriftsteller lange gefeilt haben muss, wird schließlich zum Zeugnis, wie Mutter und Großmutter mit ihren Erzählungen die Saat für seine schriftstellerische Begabung legten. Schon früh hat Little Dog darüber nachgedacht, wie man Gedanken in den Kopf eines anderen Menschen transportieren kann. Elche, Hirsche, Büffel als Teil amerikanischer Kultur stehen im Roman u. a. für das Männerthema Jagd. Tiere allgemein symbolisieren für Rose den kulturellen Graben – wie kann man um ein Tier weinen, solange es existenziellere Problem gibt, kann sie sich ereifern. Roses Befremden wird durch ein Hirschkalb in städtischer Umgebung auf dem Buchcover treffend abgebildet. Kunstvoll verknüpft Vuong die Perspektiven, ergänzt sie mit Lans uferlosen Erzählungen und der wenig schmeichelhaften Rolle Großvater Pauls. Mit seiner verkümmerten Muttersprache hat der erwachsene Erzähler sich inzwischen spürbar auseinandergesetzt - im Glauben, dass Wissen Klarheit schaffen würde. Sein Erleben als Kind und Jugendlicher bleibt auch aus der Distanz herzzerreißend authentisch. Ein schmerzhaft schöner Roman, dessen Klappentext leider schon zu viel preisgibt.