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gwyn

Posted on 9.12.2020

«Ich schreibe, weil ich glaube, dass ich etwas zu sagen habe. Über mein Leben zwischen dem achtzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr, zwischen meinem nicht bestandenen Abitur und dem Militärdienst.» Prosa, die unter die Haut geht! Ja, dieser Autor hat etwas zu sagen! Durch die Prüfung gefallen begibt sich der schmale Junge auf Arbeitssuche, wird überall abgewiesen. Am Ende bekommt er einen Job in einem Sägewerk. Und dieses Werk wird nicht seine letzte Station in der Holzverarbeitung sein. Es ist dunkel, wenn er morgens aufsteht, genauso dunkel, wenn er am Abend auf dem Fahrrad zurückkehrt. Im Werk ist es eiskalt, auch wenn der Ofen brennt – der Chef erlaubt nur billiges, feuchtes Pappelholz zu verbrennen, und das taugt nichts als Brennholz. Finger und Füße bekommen Frostbeulen. Zwölf-Stunden-Tage – im Winter bitterkalt, im Sommer ist es vor Hitze kaum auszuhalten. Die Arbeit ist beinhart am Anfang, der Junge ist kurz vor dem Zusammenbrechen, doch er beißt sich durch, trotz Verletzungen. Hier wird bis ans Limit geschuftet, ohne Rücksicht auf den Körper, auf die Gefahr, in die Säge zu geraten, sich Finger Hände, den Arm abzusägen, fliegende Holzteile oder Bretter ins Gesicht zu bekommen, wenn die Maschine nicht ordentlich eingeteilt ist. «An manchen Abenden bin ich so fertig, dass ich mich ernsthaft frage, wie ich aufs Fahrrad kommen soll. Dabei ist der Abend noch nichts im Vergleich zum Morgen … dass man sich fragt, wie man aus dem Bett kommen soll, mit steifen Gelenken, zum Umfallen müde, mit weichen Beinen und einem Körper, in dem jeder Muskel schmerzt und das ganze Fleisch nach Gnade schreit.» Ländlichen Kleinindustrie, das Ausnutzen von Arbeitern, für den Arbeitsschutz ist jeder selbst verantwortlich, in dem er aufpasst. In schneidender Prosa berichtet der junge Mann von seiner Arbeit in der Sägemühle, beobachtet seinen Körper seinen Geist im Kontakt mit Dingen und Materialien, wie sich mit der Zeit seine Einstellung, sein Körper verändert. Jeder folgende Job ist schlimmer als der davor. Der Leser taucht ein in Geräusche und Gerüche, zittert mit dem Jungen, leidet mit ihm seine Qualen. Der letzte Teil hat mich nochmal besonders beeindruckt. Hier bauen drei Männer allein in der Wildnis in Kälte und Schlamm eine Sägemühle auf – beeindruckend! «…Viele hätten an deiner Stelle schon aufgegeben.› Seine Worte tun mir gut. ‹Außer Dienst› ist Garnier sehr nett. Aber wenn er vor einem Stück Holz steht, dann hat er sich nicht mehr unter Kontrolle, dann kennt er weder Vater noch Mutter.» Die Sprache ist brachial, wie der Job. Der Junge wird zum Mann, wie er am Ende resümiert. Er verändert sich, nicht nur körperlich – erst beobachtend dann austeilend nimmt er das an, was ihn am Anfang abstieß. Im Betrieb gibt es eine Hackordnung unter den Arbeitern und eine gewisse Schadenfreude, wenn bestimmten Leuten ein Unglück passiert. Der Chef ist ein hinterlistiger Säufer, der seine Leute antreibt, brutal, ohne auf deren Gesundheit zu achten und ohne die geringsten Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Der Einzige, der sich traut, den Mund aufzumachen, ist der Junge – der den Chef fordert, irgendwann zum Sprecher der Gruppe wird. Letztendlich ist er dabei recht eigennützig, handelt hinter dem Rücken der anderen seine Lohnerhöhung aus. Seine Sprache passt sich Stück für Stück dem rauen Ton an, auch er wird Teil der Maschinerie der Intrigen. «Bei niedrigen Temperaturen frieren die Stellhebel der Spannböcke an den Händen fest. Das Holz vereist. Morgens müssen wir in der Sägehalle, durch die der Wind pfeift, und im Schein der Lampen, die kaum leuchten, die Maschinen mit verharztem Öl schmiere. Das Feuer der petroleumgetränkten Holzlatten verbreitet einen widerwärtigen Gestank von verbranntem Öl und Harz. Es raucht sehr stark. Ich werde mich mein ganzes Leben an diese Arbeitsmorgen erinnern …» Ungehobelte Prosa. Ungehobeltes Benehmen, Druck lastet auf allen Menschen. Der Druck auf dem Unternehmer, Gewinn zu machen, der Druck auf den Arbeitern, sich durchzuquälen, um den Job nicht zu verlieren. Eine harte Arbeit, auf die man stolz sein kann – eine unmenschliche Arbeit, bei der die Arbeiter bis über ihre Grenzen gehen müssen. Fein beobachtet auf Papier gebracht. Den Leser schüttelt es, er kann sich kaum vorstellen, wie man solch einen Job aushalten kann. Dieser kleine, feine Roman ist eine Hommage an den einfachen Arbeiter, dessen Leistung viel zu wenig geschätzt wird. Ohne diese Produktionen wären wir aufgeschmissen. Der Mensch ist leidensfähig bis an seine Grenzen und sein Körper ist zu immensen Kraftanstrengungen möglich, wenn er darauf trainiert wird. Es ist immer wieder erstaunlich, zu sehen, wenn man Bücher über den Anfang, bis Mitte des 20. Jahrhundert liest, welch rasanten technischen und menschlichen Fortschritt wir hinter uns gelegt haben. Mit dem technischen Fortschritt kamen Arbeitsschutz, Arbeitnehmerrechte – und liest man diesen Text, kribbelt es einem den Rücken hinunter, unvorstellbar diese Arbeitsbedingungen, diese Kraftanstrengungen. Solche Menschen brauchten weder ein Fitnesszentrum, noch sonstige Freizeitbeschäftigung, ihr Leben bestand aus arbeiten und schlafen, essen. Das Rentenalter haben sie selten erreicht. Über den Autor ist offiziell nichts bekannt. Der Text wurde wohl bereits 1953 geschrieben, aber erst 1975 durch den französischen Schriftsteller Pierre Gripari bei L’Âge d’Homme veröffentlicht, ohne Wissen und Einverständnis des Autors – daher Anonym. Allerdings verplapperte sich 1984 der nun berühmte Autor Gripari in einem Nebensatz, vielleicht auch mit Absicht: Sein Bruder habe diese Zeilen geschrieben. Soweit man die Biografien zurückverfolgen kann, stimmt die Geschichte. Die Brüder waren Waisen und Pierre lebte zu dieser Zeit im Elternhaus, betreut durch das Hausmädchen Yvonne. Die Personen Pressurot, der in Gauthiers Sägemühle arbeitete, einen schweren Unfall hatte, ist belegbar; ebenso der Brand in Gauthiers Mühle; die Mühle der Brüder Garnier gab es – die autobiografischen Daten scheinen stimmig. Der vermeidliche Autor selbst wurde Pilot und verstarb 2015. Der Schweizer Verlag Héros-Limite gab im Jahr 2013 eine Neuausgabe heraus, die mit dem Prix Mémorable ausgezeichnet wurde. Und hier die deutsche Übersetzung!

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