Buchdoktor
Die 1935 geborene Annie Proulx arbeitete als Journalistin und Sachbuchautorin, bevor sie 1988, mit über 50 Jahren ihren ersten Band mit Kurzgeschichten veröffentlichte. "Ein Haus in der Wildnis" dokumentiert die mutige Entscheidung der amerikanischen Autorin mit fast 70 Jahren aus Neufundland in die USA zurückzukehren und dort ihr Traumhaus bauen zu lassen. Proulxs Familie war in ihrer Kindheit häufig umgezogen, ihr ehrgeiziger Vater ständig auf der Suche nach einem besseren Job. Wyoming, Schauplatz von Proulxs Stories, soll nun auch ihre Heimat werden. Sie kauft am North Platte River, in der Nähe der Medicine Bow Range, ein Grundstück, durchzogen von einem Fluss, samt Insel im Fluss, Sumpfgebieten und einer geologisch bemerkenswerten Steilklippe. Das Grundstück bietet zahlreichen Tierarten Lebensraum. Eine vogelförmige Wolke am Himmel nimmt die Bauherrin in der Zeit vor Unterzeichnung des Kaufvertrags als gutes Omen; sie nennt ihren Traum von nun an Bird Cloud. Annie Proulx hatte zwar über Wyoming und seine Farmer geschrieben, wusste jedoch offensichtlich nicht, auf was sie sich mit ihrem waghalsigen Projekt einließ. Für die Ausführung ihrer ausgefallenen Vorstellungen passende Handwerker zu finden, ist nur eine der Herausforderungen. Unwirtliche Wetterbedingungen mit Hagelschauern im Sommer, schneidende Winde und lange Winter sind typisch für die Gegend. Obwohl das gerade erworbene Land offiziell Naturschutzgebiet sein soll, zeigt es deutliche Spuren von Überweidung durch die Rinder der Nachbarfarmen. Das riesige Gelände ist noch nicht eingezäunt, es gibt weder Stromanschluss noch Telefon, die einspurige Zufahrts-Straße wird im Winter nicht geräumt und das Wasser aus dem Brunnen ist ungenießbar. "Ein Haus in der Wildnis" erzählt vom Abenteuer des Hausbaus, über die Bedeutung des Platzes am Platte River für die indianischen Ureinwohner und von der hemdsärmeligen Art, in der hier noch vor kurzer Zeit Viehzüchter mit Zaunpfählen und Knarren ungerührt von geltendem Recht ihre Vorstellungen durchsetzten. Der historische und der naturkundliche Teil des Buches zeigen die Autorin als präzise Beobachterin, die jede Pfeilspitze auf ihrem Grund wahrnimmt und mit großem Geschick Experten findet, mit denen gemeinsam sie ihre Funde analysiert. Stundenlang beobachtet Proulx das Verhalten der Greifvögel und dokumentiert ihre Sichtungen ausführlich. Aus der Sorgfalt, mit der die Autorin die Geschichte ihres Besitzes recherchiert, wird im letzten Drittel des Buches deutlich, warum sie beim Entwurf des Hauses so viel Raum für ihr Archiv und ihre Landkarten einplante. In „Mitten in Amerika“ haben Proulx' Leser ihre akribische Recherche kennengelernt und werden "Ein Haus in der Wildnis" gern als Ergänzung lesen. Die Geschichte eines ungewöhnlichen Hausbaus zeigt eine unbekannte Seite der Autorin, die sich im Buch auch zu ihrer frankokanadischen Herkunft und ihrer Arbeit als Autorin äußert. Proulx' Erzählung über ihr Traumhaus stieß auf teils harsche Kritik; denn es wurde als Überheblichkeit einer Weißen gewertet, der es an Fingerspitzengefühl für die Geschichte der Region mangele. (8.6.2013)