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Buchdoktor

Posted on 8.12.2020

Die Mi’kmaq lebten in Kanadas heutigen maritimen Provinzen rund um den St. Lorenz-Strom, in Nova Scotia, auf Prince Edward Island, in New Brunswick und auf der Gaspé-Halbinsel in Québec, bis sie von weißen Siedlern verdrängt wurden. Annie Proulxs epische Saga erzählt vom Schicksal der Ureinwohner und der Einwanderer am Beispiel der Sippen von René Sel und von Charles Duquet, zwei französischen Siedlern. Die Männer kommen 1693 nach Neu-Frankreich und müssen ihr Nutzungsrecht auf ein Stück Land zunächst bei ihrem „Seigneur“ abarbeiten. Grundbesitz wie wir ihn kennen, gibt es nicht; das Land bleibt im Besitz des Königs. Als der Seigneur eine vorteilhafte Heirat wittert, zwingt er René, seine Mi'kmaq-Ehefrau zu heiraten und entledigt sich damit zugleich der Kinder aus dieser Beziehung. Das Zweckbündnis mit Mari gründet eine der beiden Sippen, deren Schicksal Proulx bis in die Gegenwart schildert. Weil die Männer von einem Holzfällercamp zum anderen ziehen, reißt immer wieder für längere Zeit der Kontakt zu ihren Familien ab, so dass Familienzweige sich unabhängig voneinander entwickeln. Im Gegensatz zu den Siedlern, die die Natur und den Wald unbedingt bezwingen wollen, haben die Mi'kmaq bisher gut vom Wald und vom Meer gelebt, indem sie fischten, sammelten und ernteten, dabei aber stets ihre Lebensgrundlagen erhielten. Die Einwanderer aus Europa wundern sich, dass die Mi'kmaq Tiere und Pflanzen für ihnen gleichwertige Lebewesen halten. Für sie sind Bäume keine Ware. Wirklich reich werden kann man mit Landwirtschaft und Holzfällen nicht, glauben die Franzosen zunächst, sondern nur mit dem Verkauf von Fellen. So zieht es Charles bald zu lukrativeren Geschäften, die ihn bis nach China führen. Seinen Namen anglisiert er zu Charles Duke, gemeinsam mit seinen Söhnen managed er schon bald in Boston Duke und Sons. Da Gewinn erst mit verarbeitetem Holz erzielt wird, betreiben geschickte Kaufleute wie er zugleich Sägewerke, Schiffe, Eisenbahnen und die Organisation der Holzfällercamps. In einer Epoche mit kurzer Lebenserwartung hat von nun an jede Generation der Dukes mit der Suche nach einem blutsverwandten Firmenchef zu kämpfen, der etwas von Holz versteht und sich von angestellten Experten nicht über den Tisch ziehen lässt. Die Zeit ist noch nicht reif dafür, dass Kaufleute und Forstleute außerhalb der elterlichen Firma ausgebildet werden können. Annie Proulx verknüpft die Geschichte und Wirtschaftsgeschichte der Region um den St. Lorenz-Strom mit einer üppigen, über 300 Jahre umspannenden Familiensaga. Die ökologischen Folgen des Raubbaus an jahrhundertealten Wäldern sind ihr dabei spürbar ein Anliegen. An diesem Roman hat sie 15 Jahre lang gearbeitet. Nicht alle Passagen konnten mich gleichermaßen fesseln; dennoch ist „Aus hartem Holz“ ein großartiger Roman, der meinen Detailhunger sättigen konnte, wie die Sels und die Dukes lebten und arbeiteten. Besonders die Abschnitte, die im 17. Und 18. Jahrhundert spielen, wirken exzellent recherchiert, die Figuren glaubwürdig. Es ist eben ein Unterschied, ob man aus heutiger Sicht weiß, welche Folgen der Kahlschlag eines Waldes hat oder man es mit Maris Augen miterlebt, die bis dahin ihre Heilkräuter im Wald gesammelt hat.

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