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Gabriele

Posted on 8.12.2020

„Bei einem Roman … fängt [man] bei null an und konstruiert aus dem Nichts eine Geschichte. Man beschreibt etwas, als wäre es vorhanden, obwohl man es gar nicht vor Augen hat. Dinge, die nicht existieren, werden allein durch Worte ins Leben gerufen“, sagt die Protagonistin dieses Romans auf Seite 253. Sie ist Schriftstellerin und schreibt „Geschichten, in denen etwas verschwindet.“ Wie das in der Realität ist, weiß sie. Noch erinnert sie sich an ihre Mutter, die Bildhauerin und den Vater, den Ornithologen, allerdings nur noch vage. Sie hat bemerkt, dass die Dinge, die die Mutter in einer Kommode aufgehoben hat, nicht mehr da sind. Auch die Vögel, denen der Vater sein Lebenswerk widmete, sind weg. Die meisten Menschen akzeptieren die Verluste, obwohl nicht nur Dinge, sondern auch Menschen verschwinden. Schließlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, denn die Erinnerungspolizei droht mit Sanktionen, wenn „verschwundene“ Gegenstände nicht entsorgt werden und somit noch sichtbar sind. Die Ich-Erzählerin hat nur zwei Menschen, die ihr nahe stehen. Das ist zum einen ihr Lektor R., zum anderen der „alte Mann“, der mit ihrer Kinderfrau verheiratet war. Dem schenkt sie ihre neu erschienene Bücher und fragt ihn, wie sie ihm gefallen. „Ich kann es nicht sagen. Wenn ich ein Buch lesen würde, wäre ja die Geschichte aus und vorbei. Was für eine Verschwendung! Ich verwahre das Buch lieber und halte es in Ehren.“ Yoko Ogawa ist ein vielschichtiger Roman gelungen, der zum Nachdenken anregt. Sie vermischt dabei Realität und Fiktion und erinnert an Dinge, die in unserem täglichen Leben schon in Vergessenheit geraten (wie zum Beispiel die Schreibmaschine mit Farbband). Sie lässt Alltagsgegenstände verschwinden, die wir täglich ganz selbstverständlich in Gebrauch haben. Die Folgen davon sind verheerend. Das Buch hat mich tief beeindruckt, auch wenn mir der Schreibstil nicht überall gefallen hat. Manche Situationen sind so ausführlich beschrieben, dass mir beim Lesen die Augen zufielen. Andere Stellen dagegen waren ausgesprochen spannend. Langweilig waren für mich manche Gespräche, in denen die japanische Höflichkeit zum Tragen kam. Da werden sogar Liebhaber gesiezt! Auch wenn ich nicht die volle Punktzahl vergebe, bin ich auf jeden Fall auf weitere Romane dieser Autorin gespannt, die mit ihren Büchern schon einige Preise einheimsen konnte.

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