Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 8.12.2020

Louise Schilling studiert Anfang der 20er des vorigen Jahrhunderts am Bauhaus in Weimar Architektur. Ihre Ausbildung dort ist nicht allein fachlich, sondern umfasst in enger Lebensgemeinschaft der Studierenden die gesamte Lebensführung von der Ernährung bis zur körperlichen Ertüchtigung und Abhärtung. Louise stammt aus wohlhabenden Verhältnissen, hat jedoch wie jede Frau ihrer Generation den Eltern gegenüber um ihren Berufswunsch zu kämpfen. Auf mich machte sie den Eindruck einer Prinzessin auf der Erbse, die zwar formal Berlinerin war, aber so gut wie nichts von wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen ihrer Zeit mitbekam. Theoretisch weiß Louise von Klassenschranken, dass andere Menschen weniger behütet aufwachsen als sie und dass es in Berlin eine jüdische Bevölkerungsgruppe gibt. Eine Schule wird sie besucht haben, in einem Lebensmittelgeschäft wird das Hausmädchen der Schillings einkaufen, so dass ihre geschilderte Ahnungslosigkeit fern des Alltagslebens unglaubwürdig wirkt. Louise sieht sich bereits als zukünftige Stadtplanerin, muss jedoch in der Ausbildung auch in der Weberei und der Schreinerei arbeiten. Als handwerklich interessierte Leserin fand ich die Schilderung ihrer praktischen Ausbildung zu oberflächlich, viel wurde behauptet und kaum vertieft, anderes stammt offenbar vom Hörensagen (wie ihr Besuch in der Dunkelkammer des Bauhauses) und hält einer Logikprüfung nicht stand. Andere Rezensenten haben schon treffend kritisiert, dass Theresia Enzensberger ihrer Protagonistin Werte und Verhaltensweisen der Moderne ungeprüft überstülpt. Sie lässt sie in lässiger Umgangssprache der 1980 Geborenen sprechen, für eine Frau im Berlin der 20er wirkt das stillos und ist teils schlicht falsch. Geradezu boshaft wirkt das Kapitel, in dem Louises Vater seine Tochter über ihren Kopf hinweg im Pestalozzi-Fröbel-Haus anmeldet, das Louise für eine „Haushaltsschule“ hält für dumme Mädchen, die nichts anderes vorhaben, als sich bald einen Mann zu angeln. Tatsächlich ermöglichte die Berufsfachschule für Kinderpflegerinnen und Kindergärtnerinnen gerade Mädchen aus einfachen Verhältnissen eine Berufsausbildung und mit dem eigenen Einkommen die Emanzipation, die die Autorin ihrer Figur gern zuschreiben will. Man könnte hier Listen sprachlicher Patzer, nicht überprüfter Projektionen und im Jahrzehnt der Handlung undenkbarer Vorgänge anlegen. Ich finde es schwer vorstellbar, wie ein Lektorat einen inhaltlich und sprachlich derart oberflächlichen Text abnicken und wie er von einer ebenso ahnungslosen Truppe von Feuilleton-Rezensenten gefeiert werden kann.

zurück nach oben