Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 7.12.2020

Als Adelaida Falcóns Mutter stirbt, trifft die Mangelwirtschaft der venezolanischen Diktatur die junge Frau besonders hart. Nachdem sie zuvor schon Medikamente für die Patientin auf dem Schwarzmarkt kaufen musste, sieht die Familie sich nun einer Beerdigung wie am Fließband gegenüber. Begraben werden kann die Mutter erst, als Adelaida einen Euroschein zückt. Mit dem eigenen wertlos gewordenen Geld kann man im Land schon lange nichts mehr kaufen. Die allgegenwärtige Knappheit hat die Menschen neugierig, geschäftstüchtig und gierig gemacht. In einer „dahinsiechenden Stadt“ trifft der Tod die Angehörigen deutlich stärker, obwohl schon immer Menschen verschwanden und irgendwo gefoltert wurden. Für Adelaida bestand ihre Familie aus ihrer Mutter, die ebenfalls Adelaida heißt, den Schwestern der Mutter und ihr. Der Name des Vaters wurde nie genannt; die geballte Neugier der beiden Tanten wie ein Naturgesetz hingenommen. Wie Hohn wirkt die Ablehnung einer vaterlosen Schülerin durch die katholische Schule in einer Gesellschaft, in der Männer noch nicht einmal behaupten müssen, sie gingen Zigaretten holen, wenn sie ihre schwangere Partnerin sitzenlassen. Mutter Adelaida hat sich jahrelang mit zusätzlichem Privatunterricht abgerackert, um über die Runden zu kommen. Seit ihrer Kindheit sind Plünderungen und Massengräber für die Tochter Adelaida Alltag gewesen. Der Lärm in der Wohnung über Adelaida legt nun nahe, dass die Polizei in Uniform Raubüberfälle begeht; denn welcher Polizist würde bei einer Verhaftung die Mikrowelle des Verdächtigen mitnehmen? Eine gespaltene Gesellschaft sortiert die Menschen in Besitzende und Habenichtse, in die die bleiben und die, die dieses Leben nicht mehr ertragen. Adelaida war umgeben von Einwanderinnen aus Spanien und Italien, Frauen die wie ihre Mutter in Dienstleistungsberufen arbeiteten. Doch die, die in ihren Heimatländern inzwischen vergessen sind, wollen nun wieder zurück nach Europa. Als jemand frech Adelaidas Wohnung besetzt und die Schlösser austauscht, glaubt sie zunächst, auch sie könnte sich einfach die Wohnung und die Identität ihrer Nachbarin Aurora überstreifen. Für Adelaida kommt der Punkt, an dem es ihr einfach reicht – und sie mit neuer Identität in die alte Heimat ihrer Mutter geht. Karina Sainz Borgos makabre Mutter-Tochter-Geschichte erzählt aus der Ichperspektive vom Niedergang eines Landes und davon, wie Diktaturen der schamlosen Bereicherung Einzelner dienen, die die Macht dazu haben. In Adelaida Falcóns Umgebung geschehen groteske Dinge, die laut Aussage der Autorin nicht den Anspruch erheben, Fakten zu sein. Doch was könnte grotesker sein als der Anspruch, jemand müsste wie eine zweite Haut eine andere Identität überziehen, um in einem neuen Land leben zu dürfen? Da Karina Sainz Borgo selbst aus Venezuela nach Spanien emigrierte, lesen sich die kurzen Kapitel ihres Romans wie ein Aufschrei.

zurück nach oben