Buchdoktor
Ein Sprung in die 80er Jahre bedeutet für Leser von heute zunächst eine Umstellung. Figuren tippten damals ihre Texte geräuschvoll in Schreibmaschinen-Tastaturen; Strom und Telefon waren in den USA unzuverlässige Gesellen, die bei jedem mittleren Unwetter ausfallen konnten und es bis heute tun. In dieser Umgebung siedelt Hendrik Otremba seinen Roman um das Kryonik-Unternehmen Exit U. S. an. Das Einfrieren Verstorbener in flüssigem Stickstoff bei -196°C war zur Zeit der Handlung in Kalifornien legal; allerdings nicht das Drumherum mit gefälschten Totenscheinen. H. G. Kachelbad und sein koreanischer Chef Lee Won-Hong haben also gute Gründe, mit Leichentransporten zu ihrer Lagerhalle kein Aufsehen zu erregen. Sie können jedoch nicht vermeiden, dass sie erpressbar werden. Der Roman setzt sich u. a. aus 7 großen Kapiteln zusammen; 5 davon sind Lebensläufe von Kunden, die sich bei Lee und Kachelbad einfrieren lassen, eins wird von der Assistentin Rosary aus der Ichperspektive erzählt, ein anderes berichtet durch einen personalen Erzähler über Kachelbad. Den beteiligten Figuren ist gemeinsam, dass sie sich bewusst unsichtbar machen und Leute mit dieser Begabung intuitiv erkennen können. Motive der „Kalten Mieter“, ihr Vermögen Exit U. S. zu überschreiben, sich mittels Sterbehilfe töten und dann einfrieren zu lassen, gibt es viele. Sie reichen von der Hoffnung, Jahre später von einer Krankheit geheilt zu werden, für die es in den 80ern noch keine Behandlungsmöglichkeiten gibt, bis zu dem Wunsch, auf einer anderen Zeitebene Menschen zu treffen, von denen man durch Krieg oder Emigration getrennt wurde. Die Ähnlichkeit zwischen dem Verschwinden durch Einfrieren und dem Unsichtbarwerden fand ich dabei höchst gelungen. Als faszinierende Figur tritt Hô Thi Kim als Icherzähler auf, der in Vietnam als Auftragskiller arbeitet, um mit dem Gewinn seine Hormonbehandlung zur Geschlechtsangleichung zu finanzieren. Bei seinen Taten ist Hô Van Kim ganz der Alte, im Privatleben ist sie Hô Thi Kim, die gefragt wird, wo ihr Bruder geblieben ist. Auch Hô kann sich unsichtbar machen, je nach dem Umfeld, indem er/sie gerade unterwegs ist. Julia aus der Ukraine will sich einfrieren lassen in der Hoffnung, dass ihre Strahlenerkrankung durch den Reaktorunfall in der Zukunft zu behandeln sein wird. Im Laufe der biografischen Kapitel stellt sich die Frage, wo im System Exit U. S. ein Schwachpunkt sein könnte; denn Kachelbad wirkt bereits sehr betagt. Dass die Kryonik damals von der Voraussetzung ausging, menschliches Personal würde immer unbeschränkt zur Verfügung stehen, können wir erst mit dem Wissen der Gegenwart als Denkfehler ausmachen. Ein Erdbeben in der Region Los Angeles wird Kachelbad & Co zeigen, wie verletzbar menschengemachte Systeme sein können. Die originelle Konstruktion um die Firma Exit U. S. herum und die Gefahr, die für das Projekt von nicht Vorhersehbarem und von menschlichen Schwächen ausgeht, fand ich ausgesprochen amüsant. Der Plot ist in Fragmenten angelegt, was nicht jedem gefallen wird, der beim Lesen die Verbindungen selbst herstellen muss. Dass ich als Leser praktisch zum Wissensstand der 80er zurück reisen muss, sorgt m. A. für einige Längen. Wir wissen heute von und über HIV, Otrembas Protagonisten wissen es dagegen noch nicht. Stilistisch wirkt der Roman nicht herausragend; in der Branche der „Kalten Mieter“ darf man offenbar nicht zu anspruchsvoll sein.