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Buchdoktor

Posted on 5.12.2020

Seit Leonie March 1990 als Austauschschülerin in Südafrika war, hat das Land sie gepackt. Verbunden war sie dem südlichen Afrika sicher bereits vorher; denn ihre Großeltern waren Farmer in Angola. March war 16 Jahre alt und erlebte das schicksalsträchtige Jahr mit, in dem Präsident de Klerk ankündigte, das Verbot von ANC, PAC, SACP u. a. Gruppen aufzuheben und mit ihnen ernsthafte Friedensverhandlungen zu beginnen. Inzwischen lebt March als Journalistin in Durban und ist mit einem Südafrikaner verheiratet. Ihre aktuelle Reise führt sie im großen Bogen durch Südafrika, zu vertrauten Kontaktpersonen, die erstaunlich offen mit ihr drüber sprechen, warum fast 25 Jahre nach der Wahl Mandelas der Vielvölkerstaat seine Probleme noch immer nicht bewältigt hat. Eine für 2018 ermittelte Arbeitslosenquote von 28% (die in einigen Regionen jedoch eher 70% beträgt) zwingt die Bevölkerung dazu, als Händler auf dem Markt oder in gering bezahlten Dienstleistungsberufen zu arbeiten. Gleich an Marchs erster Station ihrer Reise wird deutlich, dass der Staat kaum Infrastruktur für Händler bereitstellt und selten Organisationstalente zum Aufbau von Gemeinschaftsprojekten zu finden sind. Warum Familienstrukturen, die den Menschen zur Zeit der Apartheid aufgezwungen wurden, noch heute nachwirken, begreift man als Europäer erst, wenn man sich die Entfernungen verdeutlicht. Männer arbeiteten in den Goldminen Johannesburgs, während ihre Familien gezwungen waren, nach Volksstämmen getrennt, teils 1000km entfernt in Townships zu leben. Die fehlenden Vorbilder der abwesenden Väter wirken bis heute nach. Marchs (schwarze) Gesprächspartner äußern unverblümt, dass mangelnder Respekt der Volksgruppen untereinander, ebenso wie von der Regierung gegenüber der Bevölkerung, und eine Mentalität des Handaufhaltens und Hilfeforderns bis heute verhindern, dass das Land mit den 11 offiziellen Landessprachen wirtschaftlich auf die Füße kommt. Auch Korruption und überflüssige Bürokratie könnte man als Respektlosigkeit gegenüber der Leistung anderer Menschen ansehen. Eine ansehnliche To-Do-Liste hat sich am Ende des Reiseberichts angesammelt, sie reicht von Gewaltkriminalität, Gewalt durch die Polizei, dem nach 20 Jahren noch immer mangelhaften Bildungssystem, der geforderten Gleichstellung der San als First People bis zu Umweltschäden, die der Allgemeinheit zur Last fallen, obwohl die Gewinne in privaten Taschen der Verantwortlichen landeten. Die Kleptokratie und Misswirtschaft von Mandelas Amtsnachfolgern lässt sich vermutlich nur mit bissigster Ironie ertragen, die sich im Vorwort andeutet. Mit u. a. dem ehemaligen Diamantensperrgebiet des Konzerns De Beers an der Grenze zu Namibia, dem ehemaligen Bantu-Homeland Transkei und dem Königreich Swaziland fährt March Ziele an, die für Besucher nicht gerade am Weg liegen und die Probleme des Vielvölkerstaates veranschaulichen. Meine eigenen Erlebnisse in Südafrika und was Einheimische ihren Gästen gegenüber unverblümt äußern, fügt sich beim Lesen mithilfe von Marchs engagiertem Bericht zusammen zu einem farbigen Mosaik der derzeitigen Lage in Südafrika. Das Patentrezept für gute Reportagen beherrscht Leonie Marsch: Nimm ein Thema, für das du selbst brennst, triff aktive, vertrauenswürdige Interviewpartner und zeige deinen Lesern auf einer Landkarte deinen Reiseweg. Ein tolles Buch, das mir die Augen für Zusammenhänge geöffnet hat.

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