Buchdoktor
Zur Behandlung ihrer Essstörung ist Stevie von ihrem Vater überstürzt in eine Spezialklinik in New Mexico eingewiesen worden. Der Ablauf, wie eine massiv psychisch erkrankte Siebzehnjährige in eine Flugzeug gesetzt und buchstäblich in die Wüste geschickt wird, hat bei mir zunächst große Vorbehalte gegenüber Meg Hastons Buch ausgelöst. Stevie, früher Stephanie, fühlt sich am Unfalltod ihres Bruders schuldig und hat beschlossen, sich bis zu seinem ersten Todestag zu Tode gehungert zu haben. Während sie sich äußerlich einigermaßen den rigiden Strukturen des Klinikalltags anpasst, verfolgt sie zielgerichtet ihren persönlichen Plan, den sie in ihrem Tagebuch dokumentiert. Indem Stevie über ihr trickreiches Ringen gegen ihre Therapeuten und die strengen Regeln der Therapie-Einrichtung in der Ichform erzählt, gibt sie den Lesern ihre geheimen Gedanken preis, die sie vor ihrer Einzeltherapeutin zunächst verheimlichen kann. Stevie tut sich sehr schwer damit, sich auf die Therapie einzulassen. So berichtet sie z. B. von ihrer Therapeutin lange nur als SK (Seelenklempner), statt Anna bei ihrem Namen zu nennen. Es ist nicht zu übersehen, dass Stevies Wohngruppe im Therapiekonzept eine wichtige Rolle spielt und dass von den Mädchen erwartet wird, auch die Schicksale und Krankheiten ihrer Mitpatientinnen anzuerkennen. Offenbar ist das Aufbegehren gegen den Ablauf der Therapie, das Beharren auf einer anderen Diagnose und der dringende Wunsch nach einer Sonderrolle Teil von Stevies Erkrankung und damit einer der kritischen Punkte, an denen ihre Therapie ansetzen wird. In Rückblenden wird zunehmend deutlich, welche Ereignisse Joshs Unfall vorausgingen und dass Stevies Essstörung nur einen Mosaikstein von mehreren in einer therapiebedürftigen Familienkonstellation bildet. Auch die Rolle, die Stevies Freundin Eden in der Vorgeschichte spielte, muss noch genauer beleuchtet werden. Stevie ist intelligent genug, die Therapiebemühungen immer wieder zu unterlaufen. Da sie außerdem eine extrem genaue, kritische Beobachterin ihrer Mitmenschen ist, lesen sich ihre Tagebucheintragungen ebenso spannend wie beklemmend. Sie scheut sich dabei nicht, ihre Zwänge zu notieren, die zwanghaften isometrischen Übungen, das ständige Messen und Überprüfen ihrer Muskeln und Knochen. Die Spannung der Handlung entsteht aus dem Rätseln, was damals vor 11 Monaten mit Josh passierte, dem Mitfiebern, ob Stevie sich wirklich das Leben nehmen wird, und der Dynamik innerhalb der Mädchengruppe. Meg Haston trifft die Innenwelt ihrer 17-jährigen Protagonisten punktgenau, so dass junge Leser/innen sich sicher gut mit Stevie identifizieren können. Die dargestellten US-amerikanischen Verhältnisse fand ich aus meiner Sicht als Europäerin sehr befremdlich. Beispiel dafür ist das Trainieren "normalen" amerikanischen Essverhaltens mit Erdnussbutter, Backmischungen und Knack- und Backbrötchen, die ich eher als gestörtes Essverhalten einstufen würde. Meg Haston wird keine normalen, natürlichen Lebensmittel kennen, so dass man ihr Szenen wie diese nur schwer ankreiden kann. Ich nehme der Autorin allerdings übel, dass sie am Ende einer hochemotionalen, spannenden Handlung in dem Moment einknickt, als Anna mit Stevie über die Ursachen ihrer Essstörungen sprechen soll. Die Erklärung, dass Mädchen magersüchtig würden, weil sie von ihrem Leben als Frau überfordert wären, empfinde ich schlicht als feige; denn sie ignoriert die Verantwortung einer Gesellschaft und ihrer Mädchencliquen für das gestörte Körperbild, unter dem Stevie bereits lange vor dem tragischen Tod ihres Bruders litt. "Alles so leicht" gelingt es, ein realistisches Bild einer Therapie in einer geschlossenen Einrichtung für Jugendliche aus der Sicht der Patientin zu zeichnen und jugendliche Leser damit gegen eine verbreitete "Legendenbildung" über psychiatrische Kliniken zu wappnen. Ein bewegendes Buch, das mit dem kombinierten Kernthema aus Essstörung und geplantem Selbstmord jedoch auf Betroffene eine fatale Triggerwirkung ausüben könnte.