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Buchdoktor

Posted on 5.12.2020

Davide Morosinotto hat mit den Illustrationen in "Die Mississippi-Bande" die Latte für die optische Wirkung seiner Bücher sehr hoch gelegt. "Verloren in Eis und Schnee" ist sein 7. Jugendroman, auch er verspricht ein aufwendiges Layout. In zwei Druckfarben schreiben offenbar zwei Personen in rote Notizhefte, in die eine weitere Person nachträglich Anmerkungen gesetzt hat. Die beiden Icherzähler sind die 13-jährigen Zwillinge Viktor und Nadja Danilow, die 1941 vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht mit dem Zug aus Leningrad evakuiert werden. Von 1941 bis 1944 wird Leningrad belagert; man schätzt, dass in dieser Zeit über 1 Million Menschen verhungerten. Noch glauben in Leningrad jedoch viele, dass die Evakuierung nur kurz dauern wird. Indem die Kinder verschiedenen Zügen zugeteilt werden, werden die Zwillinge voneinander getrennt. Warum die Geschwister getrennt wurden, beruht auf einer Vorgeschichte, die Victors Freund Michail erst viel später von einem anderen Jungen erzählt bekommen wird. Viktor kommt in eine Kolchose in Kasan/Tartastan, Nadjas Zug brennt ganz in der Nähe von Leningrad aus. Von Anfang an ist Viktor überzeugt, dass seine Schwester noch lebt und er sie in der Gegend von Mga finden muss, auch wenn außer ihm niemand an Überlebende aus Nadjas Zug glaubt. Viktor investiert nun alle Kraft, um bei Eis und Schnee gemeinsam mit anderen Kindern aus der Kolchose zu fliehen und wieder Richtung Westen zu gelangen. Nadja schlägt sich – ebenfalls mit mehreren Gefährten - zur Festung Schlüsselburg/Oreschek durch, die mitten Im Zufluss der Newa in den Ladoga-See liegt. Auf Nadja und ihre Gefährten warten lebensgefährliche Abenteuer bei der Verteidigung der Festung gegen die deutschen Truppen. So wie sich Nadja und Viktor auf einer Strecke von über 1000km einander nähern, nähern sich auch ihre Einträge in den roten Notizbüchern einander. Angst und Zweifel der Kinder sind deutlich zu spüren. Lange bleibt offen, ob die Zwiliinge ihren Weg bei - 20°C überleben oder ob nur ihre Notizhefte erhalten geblieben sind. Oberst Smirnow, der die Hefte durcharbeitet, hat seine Zweifel, ob die Kinder Kälte und Hunger tatsächlich überstanden haben können. Vor allem will er sich nicht vorstellen, dass russische Behörden und russische Soldaten so gehandelt haben könnten, wie Viktor und Nadja es beschreiben. Seine Randbemerkungen wirken knochentrocken und humorlos und setzen dramaturgisch ein Gegengewicht zu den dramatischen Ereignissen während des „Großen Vaterländischen Kriegs“. Durch Kartenausschnitte, historische Abbildungen und die ramponierten roten Notizhefte wirkt die Geschichte absolut authentisch. Obwohl ich die Gegend der Handlung aus Erzählungen kenne, haben mir die Kartenausschnitte ein völlig neues Bild des Russlandfeldzugs vermittelt. Wer sich mit der Zeit der Belagerung Leningrads bereits beschäftig hat, wird allerdings auch Schwächen in der Logik entdecken: eisige Temperaturen verzeihen keine falschen Entscheidungen. Da mein Vater zur Zeit der Handlung als Soldat genau in der Region auf vereisten Pisten einen Bus gefahren hat, bin ich natürlich mit Erzählungen aufgewachsen, wie sich LKWs und Busse damals bei eisigen Temperaturen verhielten. Auf dieser Basis finde ich, dass Morosinotto es sich bei seinen LKW-Szenen zu leicht gemacht hat. „Im Leben ist es eben nicht wie in Büchern.“ (Viktor, Seite 332) Jugendliche Leser wird das weniger stören, darum verdient seine atemberaubende historische Abenteuergeschichte die volle Punktzahl. Nachsatz (Auf diese Rezension hin hat der Autor Kontakt zu mir aufgenommen und wir haben ein wenig über alte Dieselmotoren gefachsimpelt. Wer keine Zeitzeugen mehr gekannt hat, hat es bei der Recherche nicht leicht ...)

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