Buchdoktor
„Bus 57“ ist eine Dokumentation realer Ereignisse, über die Dashka Slater 2015 in der New York Times berichtet hat. In vier Teilen stellt sie hier für eine Zielgruppe ab 14 Jahre die Betroffenen Sasha und Richard vor, beschreibt die Ereignisse im Bus 57, sowie das Gerichtsverfahren und die Verurteilung Richards. Richards Tat verband die Schicksale einer nonbinären Jugendlichen, die eine private Highschool mit nur wenigen Schülern besucht, und eines 16-jährigen schwarzen Jugendlichen, der bereits mit 14 Jahren in fragwürdiger Weise zu einer einjährigen Jugendstrafe verurteilt wurde. Da das Anzünden von Dashas Rock aus einer Gruppe Jugendlicher heraus als Hate Crime gegen eine schützenswerte Bevölkerungsgruppe eingeordnet wurde, konnte die Bezirksstaatsanwältin die Verurteilung Richards nach Erwachsenenstrafrecht anordnen, ohne dass der 16-Jährige vorher psychologisch begutachtet wurde. Vorausgegangen war eine Befragung des Jungen durch die Polizei ohne Anwalt und ohne Benachrichtigung der Eltern. Mit dem Label Hate Crime wurde offenbar eine marginalisierte Bevölkerungsgruppe als Vorwand genutzt, um mit aller Härte gegen farbige Jugendliche vorzugehen, deren Taten in anderen Kulturen wohlwollend als pubertärer Leichtsinn gewertet würden. Aus zahlreichen Eindrücken und Informationen zu den Ereignissen ergibt sich das Bild zweier Jugendlicher, deren Chancen nicht unterschiedlicher sein könnten. Für Sasha, die am Asperger-Syndrom leidet und die sich schon sehr früh fragte, warum sie Schönheitsidealen fremder Menschen folgen sollte, findet sich eine liberale private Schule, die Abweichungen von der Norm nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich thematisiert. Richard ist das ungeplante Kind einer 14-Jährigen, die alles tut, um ihn zu einem guten Menschen zu erziehen. Seine äußerst fragwürdige erste Verurteilung (die ihn mit 14 für ein Jahr von seiner Familie trennt) wäre weißen Jugendlichen vermutlich nicht passiert, deren Angehörige sich einen Anwalt leisten können. Richard erkennt, dass er in der Schule Hilfe braucht und wendet sich an Kaprice Wilson, die „Abwesenheitsbeauftragte“ seiner Schule. Wenn 95% der Schüler Farbige sind und von 1800 Schülern 30% „vom Leben aus der Bahn geworfen“ werden, kann man sich Kaprices Anstrengungen nur wie einen Kampf gegen Mühlräder vorstellen … Die Verurteilung Jugendlicher nach Erwachsenenstrafrecht (Proposition 21) ist eine Besonderheit des amerikanischen/kalifornischen Justizsystems, die durch die Voraussage von Wissenschaftlern ausgelöst wurde, ein neuer Typus jugendlicher, schwarzer Intensivtäter wachse heran, gegen die mit aller Härte vorgegangen werden müsste. Laut Statistik war die Entwicklung der Kriminalität zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung jedoch schon rückläufig und sank konstant weiter. Es ist leicht nachvollziehbar, dass politische Hardliner der amerikanischen Öffentlichkeit nun zu gern verkaufen möchten, allein ihr Handeln hätte die Jugendkriminalität eindämmen können … Dashka Slater setzt den Gender* ein und die deutsche Übersetzung des Texts nutzt für Sasha das Pronomen "sier" für das neutrale englische "they". Das ist zunächst ungewöhnlich, demonstriert jedoch anschaulich, wie stark Sprache unser Denken und unsere Erwartungen bestimmt. Sashas Entwicklung zur agender Jugendlichen, Richards vergeblichen Versuch, im Leben wieder in die Spur zu kommen, und die prägenden Figuren im Leben der Jugendlichen finde ich in Slaters Doku außerordentlich differenziert dargestellt, die Form der Dokumentation jedoch wenig lesefreundlich. Reine Sachtexte (z.B. Pubertät, rechtlicher Hintergrund) und den Wortschatz, der nonbinäre Personen korrekt bezeichnet, hätte ich lieber separat in einem Anhang gehabt. Da sich der größte Teil der Dokumentation um eine Besonderheit des amerikanischen Rechts dreht, der in Deutschland undenkbar scheint, kann ich das Buch nur bedingt empfehlen. Dennoch ist es ein wichtiger Beitrag zum wachsenden Graben zwischen gesellschaftlichen Gruppen und dem besonderen Risiko schwarzer Jugendlicher ohne Resozialisations-Chancen jahrelang weggesperrt zu werden.