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Buchdoktor

Posted on 4.12.2020

Elli Berger-Vogts Weihnachtsritual beginnt damit, dass sie im Haus radikal alle Spuren ihres jugendlichen Lebensgefährten Micha tilgt. Sein iPhone verschwindet vom Nachttisch und wird später durch den Radiowecker ersetzt, so als würde Ellis Exmann Robert noch mit ihr leben. Anschließend wird Robert sein verlassenes Revier neu markieren. Elli und Robert haben ihren Kindern bisher verheimlicht, dass beide mit neuen Partnern leben; Robert hat sein neues Glück mit seiner Sprechstundenhilfe Chrissie gefunden. Seit ihrer Trennung spielten Ellie und Robert alle Jahre wieder den erwachsenen Kindern ihr persönliches Weihnachtsmärchen vor, als wären sie noch eine heile Familie. Das Arrangement mit seinen vielen Beteiligten ist so kompliziert, dass es einfach auffliegen muss. In diesem Jahr werden Micha und Chrissie, die beiden neuen Partner, Weihnachten nicht mehr allein verbringen, nur weil die Psychotherapeutin Elli den eigenen Kindern die Realität nicht zumuten will. Auch die Kinder der Bergers werden dieses Mal ihre gewohnten Rollen in Ellis Weihnachtsmärchen nicht spielen können. Die Firma der älteren Tochter Susanna muss Insolvenz anmelden, die jüngere Leonie ist schwanger und auch Sohn Tobias müsste mit seiner Familie längst einmal reinen Tisch machen. Lo Malinke zeigt in seiner filmreifen Weihnachtsgeschichte vertraute Strukturen einmal aus ungewohnter Perspektive, wie das Verhältnis zwischen erwachsenen Geschwistern oder zwischen Mutter und Tochter. Das Fallen der Masken mitten im Weihnachtsstress kommt für Malinkes Leser nicht unerwartet. Pfiff erhält die Geschichte durch Ellies doppelzüngige Rolle als erfolgreiche Ratgeber-Autorin und Talkshow-Ikone, die anderen Menschen gute Ratschläge gibt, aber selbst nicht lebt, was sie gegen üppige Honorare predigt. Ellie selbst hält sich für eine Blenderin, verwundert darüber, dass ihr noch niemand auf die Spur gekommen ist. Als käufliches Produkt der Mediengesellschaft verkörpert Elli zusätzlich das wandelnde Klischee einer beruflich erfolgreichen Frau ihrer Generation. Während die Handlung in flottem Tempo auf Ellies Demaskierung zusteuert, vermittelt Lo Malinke seinem Publikum Nachdenkliches über das Altern, über das Selbstbild von Menschen, die mit einem sehr viel jüngeren Partner leben, und über den Umgang mit Erinnerungen in Ellies inszenierter Welt. Mit seinem dezent schadenfrohen Blick hinter die Fassaden gediegener Bürgerlichkeit zeigt er ein wenig Bösartigkeit, aber auch Geschwisterliebe und talentierte Väter. Lo Malinkes turbulenter Weihnachtsroman kombiniert herrlich widersprüchliche stereotype Filmcharaktere mit einem klug bemessenen Quantum an Weihnachtsgefühlen und lässt das Drehbuch für den kommenden Weihnachtsfilm bereits ahnen. (Inzwischen ist das Buch verfilmt.) (18.11.2014)

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