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Buchdoktor

Posted on 3.12.2020

Karine Tuil erzählt die zerstörerische Dreierbeziehung der in der Gegenwart rund 40 Jahre alten Franzosen Nina, Samir und Samuel. Vor 20 Jahren trennte sich Nina von Samir, um eine Beziehung mit Samuel aufzunehmen. Samir, als Sohn einer alleinerziehenden tunesischen Einwanderin in kargen Verhältnissen aufgewachsen, schließt höchst erfolgreich ein Jura-Studium ab. Doch als er sich um eine Stelle bewerben will, wird er als unbekannter Akademiker ohne Beziehungen aufgrund seines nordafrikanischen Familiennamens oder seiner Anschrift in einer Hochhaussiedlung nicht zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Als ihm ein jüdischer Rechtsanwalt praktisch in den Mund legt, Sam sei doch sicher die Abkürzung von Samuel, wirft Sam seine muslimische Herkunft spontan ab, mimt dem Anwalt gegenüber den wenig religiösen Juden und steigt unter dessen fördernden Hand zum erfolgreichen Anwalt auf. Eine New Yorker Niederlassung der Pariser Kanzlei führt Sam nach New York, wo er an seiner jüdischen Identität festhält und in eine der einflussreichsten jüdischen Familien der Stadt heiratet. Von diesem Punkt an scheint es für „Sam“ keinen Weg zurück zu geben. Er verleugnet gegenüber Frau und Kindern seine Mutter und seinen Halbbruder in Paris. Wie Sam sich nach der Erfahrung von Diskriminierung in Frankreich neu erfindet, mag man als Leser noch nachvollziehen können. Schwerer wird es, für Sams Sex-Sucht und sein Verhalten gegenüber Frauen eine plausible Erklärung zu finden. Obwohl er sich der Illusion hingibt, sich aus seiner beruflichen Position endlich an der Gesellschaft rächen zu können, die seine Mutter schlecht behandelt hat, tut er genau das Gegenteil. Er belügt Frau und Familie, benutzt Frauen für eilige Nummern und lässt sie bei nächster Gelegenheit fallen. Ermöglicht wird ihm sein pathologisches Sammelverhalten durch Frauen, die bereitwillig eine Opferrolle einnehmen; denn Sam kann nur so lange den Starken geben, wie er andere in die Rolle des Schwachen drängen kann. Die Schwäche vermeintlicher Opfer dient ihm innerhalb eines weltfremden Frauenbildes als Rechtfertigung seines amoralischen Handelns. 20 Jahre später ist Nina noch immer mit Samuel zusammen, der als Sozialarbeiter in einer Vorstadtsiedlung arbeitet und vom Dasein als Autor träumt. Eine Reportage über den erfolgreichen „Sam“ konfrontiert das Paar damit, dass Samir unter einer neuen Legende in New York lebt – indem er Samuels Geschichte als seine ausgibt. Die Handlung erhält einen unerwarteten wie dramatischen Twist, als Sams unauffällig nordeuropäisch aussehender jüngerer Halbbruder François in die Handlung tritt. Samir/Sam, der vaterlos aufgewachsener Sohn nordafrikanischer Einwanderer, dessen Selbsttäuschung durch passive, farblose Frauenfiguren gestützt wird, agiert als äußerst unsympathischer Protagonist. Nicht nur Frankreich hat massive Probleme mit vaterlos aufgewachsenen Kindern der Vorstädte und verqueren Frauenbildern in Parallelgesellschaften. Empfehlenswert ist Tuils Gesellschaftsroman für Leser, die sich für die Rolle von Religionen bei der Neuerfindung von Identitäten interessieren oder für die gläserne Decke beim Aufstieg aus Problemvierteln. Wer sich von der Sympathie-Erwartung lösen kann, wird das Ausbreiten des roten Teppichs für Sams Verhalten wahrnehmen können, an den Chamäleons wie er ihre Farbe anpassen.

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