Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 3.12.2020

Mitten im Winter in Eis und Schnee verschwindet Ayumi Mikami, die Tochter des Polizei-Pressesprechers in einem Polizeidistrikt im nördlichen Japan. Sie ist die dritte verschwundene Jugendliche innerhalb kurzer Zeit. Gleich zu Beginn wundert man sich als ausländischer Leser, dass Mikami sich seinen Kollegen im ganzen Land besonders verpflichtet fühlt, die nach Ayumi gesucht haben. Sollte es nicht das Berufsethos jedes Polizisten sein, mit allen Mitteln nach Vermissten zu fahnden, auch wenn sie keine Angehörigen von Kollegen sind? Yoshinobu Mikami hatte sich seine Karriere bei der Polizei anders vorgestellt und ist nach zwanzig Jahren nun doch wieder in der Presseabteilung gelandet. Für Konflikte zwischen Polizei und Öffentlichkeit ist er offenbar als Lakai der Medien vorgesehen, während die Verantwortlichen ihre Hände in Unschuld waschen können. Aktuell hat Mikami mehrere heikle Themen auf der Agenda. Bei einem Fall von Preisabsprachen in der Bauindustrie tappt seine Abteilung völlig im Dunklen, ein Verkehrsunfall hat wieder einmal den willkürlichen Umgang der Polizei mit persönlichen Daten von Zeugen und Opfern gegenüber der Presse hochkochen lassen und schließlich droht ein ungeklärter Altfall von 1989 zu verjähren. Nach Ablauf der Verjährungsfrist würde die Sonderkommission aufgelöst; es würde aber auch endgültig unter den Teppich gekehrt, dass die Polizei im Entführungsfall eines kleinen Mädchens 1989 einen fatalen Fehler vertuscht hat. Der Umgang mit dem Fehler steht hier aus meiner Sicht stellvertretend für die Unfähigkeit der japanischen Nation, aus Fehlern zu lernen, Reue zu empfinden und sich bei den Betroffenen zu entschuldigen. Japans aktuelle Probleme als überaltertes Land (u. a. weil es standhaft Frauen vom Arbeitsmarkt fernhält und Zuwanderung ablehnt) zeigen sich wie in einem Brennglas in der mangelhaften Fehlerkultur. Als sich der Generalinspekteur der Polizei zu einem Besuch ankündigt, hat Mikami dafür zu sorgen, dass dem Inspekteur keine unbotmäßigen Fragen gestellt werden. Mikami nickt, wahrt nach außen die Fassade, verbeugt sich, überreicht Geschenke zur Festigung verpflichtender Beziehungen. Als betroffener Vater vom ungelösten Fall besonders berührt, macht er sich jedoch auch unauffällig daran, das verkrustete System zu reformieren, das lieber seinen Pressesprecher aufgebrachten Journalisten zum Fraß vorwirft, als drängende Probleme auf politischer Ebene zu regeln. Mikami ist spürbar vom Verschwinden seiner Tochter gezeichnet und kann nur schwer mit seiner Frau über den Verlust sprechen. Minako Mikami war vor ihrer Heirat selbst Polizistin. Im Polizeidienst gibt es zwar Polizistinnen; die Herren in Anzügen erwarten jedoch, dass attraktive Frauen gefälligst heiraten und Posten für Männer freimachen sollen. Die Zahl 64 bezieht sich auf das 64. Jahr der Showa-Zeit (die 1989 mit Kaiser Hirohitos Tod endete) und an die sich die Heisei-Epoche anschloss (Regentschaft Kaiser Akihitos). Hochsymbolisch könnte sich in der Zahl die Hoffnung verbergen, dass eine neue Epoche auch die Chance für Reformen bietet. Gemessen daran, dass für die Ermittler die Zeit drängt, fand ich Hideo Yokoyamas gesellschaftskritischen Roman wenig spannend. Sehr aufschlussreich ist er zur Situation berufstätiger Frauen, zum Umgang mit Angehörigen von Verbrechensopfern und mit psychischen Problemen Jugendlicher. Die Männer in Anzügen im aktiven Polizeidienst machen das Lesen streckenweise zur Geduldsprobe, weil sie sich im Temperament kaum unterscheiden - und alle Namen mit dem Buchstaben M zu beginnen scheinen. "64"/Six Four könnte sich als gesellschaftskritische Schrift erweisen, ähnlich den Romanen von Sjöwall/Wahlöö, die zu ihrer Zeit die Frage aufwarfen, welchen Platz Polizei und Justiz in einer Gesellschaft einnehmen sollten. 3 1/2 von 5 Sternen

zurück nach oben