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Buchdoktor

Posted on 3.12.2020

Die Schwestern Lidy und Armanda sind Anfang 20, Armanda wohnt noch im Haushalt der Eltern, Lidy mit Ehemann Sjoerd und Tochter Nadja nur ein paar Häuser weiter. Während düster wirkende Andeutungen und eine Hochwasserwarnung im Radio ein nahendes Orkantief ahnen lassen, fährt Lidy zu einem Kindergeburtstag auf der niederländischen Insel Schouwen, die kleine Nadja wird von den Großeltern und von ihrer Tante betreut. Lidy nimmt den Wetterumschwung und das auffällige Verhalten von ein paar flüchtenden Hasen zwar wahr, Überflutungen sind jedoch an der niederländischen Küste so alltäglich, dass sie sich nicht weiter sorgt. Der Roman wird aus der Perspektive des allwissenden Erzählers zeitlich versetzt erzählt. Während auf einer Erzählebene die Angehörigen in Amsterdam von der Jahrhunderflut erfahren, Lidy vermisst melden und schließlich für tot erklären lassen, folgt die andere Ebene Lidy noch immer auf ihrer Flucht vor dem Wasser. In Amsterdam heiratet Armanda Sjoerd, nun offiziell Witwer, in den sie als junges Mädchen ebenso verliebt war wie Lidy, und wird Nadjas Stiefmutter. Das Kind weiß, das es eine Mama und eine Mutter hat. Solange Lidys Leiche trotz intensiver Suche nicht gefunden wird, wäre es theoretisch denkbar, dass sie irgendwo in den Niederlanden noch lebt und sich an ihre Familie in Amsterdam nicht erinnern kann oder will. Jahrzehnte vergehen, Lidy und Sjoerd sind inzwischen Eltern von zwei weiteren Kindern, Nadja ist erwachsen und berufstätig. Erst am Schluss erfährt man als Leser, was Lidy in dieser Winternacht 1953 passierte. Die unglücklichen Folgen des Rollentauschs der beiden Schwestern haben auf mich wie eine "unerhörte Begebenheit" gewirkt. Sjoerd und Armanda leben nach Libys Verschwinden eine Ehe auf Abruf, im Ungewissen darüber, ob Liby wirklich durch die Sturmflut ums Leben gekommen ist. Das nicht unkomplizierte Verhältnis der Schwestern ist unter diesen Bedingungen kaum zu klären. Bis zum letzten Kapitel habe ich der Aufklärung von Libys Schicksal entgegengefiebert. Spannung erzeugt Margriet de Moor mit eingeschobenen Wetterbeobachtungen. So sorgen sich die Leser schon frühzeitig um Liby, während die Romanfiguren die heraufziehende Katastrophe noch mit routiniertem Blick auf die nahenden Wassermassen ignorieren. Mit welchen Mitteln die Autorin die Beunruhigung ihrer Leser erreicht, wirkt nicht weniger spannend als die Ereignisse an der niederländischen Küste. Mit den ambivalenten Gefühlen der Angehörigen einer vermissten Person konnte ich mich leicht identifizieren und fand den Roman mitsamt seinem historischen Hintergrund spannend und raffiniert angelegt.

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