Buchdoktor
Dass die Kolumnistin „Katja Lewina“ in ihrer „offenen“ Hauptbeziehung Sex mit weiteren Partnern hat, wurde zum großen Aufreger der deutschen Medienlandschaft. Sie provoziert allein schon mit ihrer Wortwahl. Was Männer selbstverständlich tun und was Frauen längst nicht zugestanden wird, darüber darf im Zeitalter Sozialer Medien offenbar erst recht nicht geschrieben werden. Als Lewina nach der Übersiedlung aus Russland mit 15 Jahren nach Berlin kommt, erlebt sie eine Stadt voller Verrückter, für die und deren Sprache sie sich fremdschämen muss. 15 Jahre später lebt sie in Brandenburg und wird von ihren Kindern kritisch mit ihrem öffentlich präsentierten Lebenswandel konfrontiert. Aus feministischer Sicht schreibt sie über Begehren, Sprachlosigkeit in der Pubertät, den Einfluss von Pornografie auf Jugendliche, Partnerwahl, Verhütung, Orgasmus, Schönheitsideale, über den Raum, den Männer auf U-Bahn-Sitzen beanspruchen, sexuellen Missbrauch – und was all das mit dem Patriarchat zu tun hat. Ihre Texte sind offenbar biografisch, auch wenn einige Details aus einer abgeschotteten Parallelwelt zu stammen scheinen. Lewinas drastische, rotzige Sprache sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich auf der Sachebene u.a. mit Texten von Eva Illouz und Mithu Sanyal befasst hat. Am Beispiel von „Fifty Shades of Grey“ fragt Lewina, warum die eine Hälfte der Menschheit sich beim Sex der anderen Hälfte unterwerfen sollte. Mit dem Hinweis, jede Person würde behandelt, wie sie sich behandeln lässt, nimmt sie den feministischen Fehdehandschuh auf. Woher der Wunsch kommt (der ihr aus ihrer eigenen Biografie vertraut ist), gesagt zu bekommen wo es langgeht, bedarf sicherlich einer intensiveren Betrachtung als auf 10 Seiten möglich ist. In der Summe wirft in der Welt nach Metoo Lewinas feministischer Rant die Frage auf, warum offenbar längst vergessen ist, was Feministinnen der ersten Generation vor Jahrzehnten erkämpften und warum in Bezug auf Frauenrechte die Bundesrepublik direkt zu Werten der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückzusteuern scheint. „Katja Lewina“ schreibt entlang ihrer eigenen sexuellen Biografie Essays und Kolumnen in populären Magazinen. Für „Sie hat Bock“ wurden einige Kolumnentexte überarbeitet. Rund 10 Seiten pro Thema sind ein idealer Umfang für Leser/innen, die wenig Zeit zum Lesen haben oder häufig abgelenkt werden. Wenn ich aus der Themenvielfalt die Aufreger Offene Ehe und nichtrepressive Sexualerziehung herauspicke und um Frauengesundheit ergänze, scheinen hier Konzepte der 70er Jahre aus der Versenkung hervorgeholt und aufpoliert zu werden. O’Neills „Die offene Ehe“ stammt von 1972, Modelle nichtrepressiver Sexualerziehung gehen zurück auf Kommunen der 68er-Generation. Die Frauengesundheits-Bibel des Boston Women’s Health Book Collective erschien 1980 in Deutschland, immerhin 10 Jahre nach der englischen Ausgabe. Nur - wie konnten diese Themen überhaupt aus dem Bewusstsein verschwinden? Weil die Enkelinnen der ersten Feministinnen sie offenbar für zu nebensächlich hielten, um sich damit zu befassen, und sich auf dem ausruhten, was Altfeministinnen einmal erkämpften? Warum werden einmal erreichte Grundrechte von Frauen 50 bis 100 Jahre später auf politischer Ebene wieder infrage gestellt und warum tragen Wählerinnen das offensichtlich mit? Über diese Kernfragen ist lange noch nicht genug geschrieben worden.