Buchdoktor
Während einer nicht näher beschriebenen Apokalypse hat eine junge Frau im Saatgut-Tresor auf Spitzbergen überlebt und macht sich nun per Boot und zu Fuß auf den Weg in ihr Elternhaus in Schottland. Alle Mitarbeiter des Projekts waren längst aus Spitzbergen geflüchtet, nur die Erzählerin und ihr Kollege Erik blieben zurück. Zuvor hatte sie die in England wütende Pandemie isoliert in einer Hütte überstanden. Englands Straßen sind gefüllt von liegengebliebenen Autos und Menschen, die auf ihrer Flucht von einer tödlichen Krankheit eingeholt wurden. Die Icherzählerin nennt sich „Monster“. Der Spitzname ihrer Teenager-Zeit könnte ihren Neuanfang in einer postapokalyptischen Welt markieren. Die einzige Überlebende braucht Wasser und Nahrungsmittel – und sie muss ihren Besitz im Rucksack transportieren. Ihre Umwelt wirkt überwuchert und verwildert; denn ohne Bauern und ohne Vieh braucht niemand mehr Wege und Zäune. Ohne ihre Eltern ist ein Haus kein Zuhause, stellt sie fest. Monster geht in Gedanken die Menschen durch, die sie früher gekannt hat. Als eigenbrötlerisches Kind mit Interesse an selbst gesammelten Schätzen war sie stets Zielscheibe für den Spott anderer Kinder. Menschen sind unlogisch und komplex, Monster kann deren Bedürfnisse nicht nachvollziehen. Ihre Sicht auf die Welt lässt Züge aus dem autistischen Spektrum vermuten. Während die meisten Menschen ohne Ansprache anderer nicht lange überleben können, erweist sich Monsters spezielle Art als Überlebensvorteil – sie braucht andere Menschen nicht. Und doch kreisen ihre Gedanken um ihre eigene psychische Verfassung und wie sie ihre Situation bewältigen wird. Bisher hat Monster in verlassenen Häusern noch immer Vorräte gefunden, die sie gebrauchen kann. Sie findet Saatgut, ein paar zurückgelassene Hühner, ihre Welt nimmt dadurch Struktur an. Auf ihren Beschaffungsgängen trifft sie auf ein Kind, das sich circa 2 Jahre allein durchgeschlagen haben muss, wenn man zur Pandemie zurückrechnet. Monster lässt sich von der mageren 12-Jährigen „Mutter“ nennen und bringt ihr Schritt für Schritt ihr Weltwissen bei. Das Wolfskind nennt sie nun „Monster“. Die beiden Überlebenden säen, ernten und gehen immer seltener in der leeren Welt Dinge beschaffen. Doch „Mutter“ muss sich damit abfinden, dass die junge „Monster“ kein unbeschriebenes Blatt ist, dazu völlig anders empfindet als sie selbst. Im zweiten Teil des Buches erzählt das Wolfsmädchen aus seiner Perspektive, wie „Mutter“ versucht, sie nach ihrem Bild zu formen. Sie jedoch ist überzeugt davon, dass es auf dieser Welt Dinge und Emotionen geben muss, von denen „Mutter“ nichts weiß und die sie nicht begreifen würde. In ruhiger reflektierter Sprache kommt zunächst eine Einzelgängerin zu Wort, die die Pandemie vermutlich allein aufgrund ihrer besonderen Persönlichkeit überlebt hat. Ihr Anderssein zeigt sich zunächst als Stärke. Ob „Mutter“ es allerdings schaffen wird, sich auf eine Welt einzustellen, die doch anders ist als erwartet, muss sich zeigen. Das Szenario einer Pandemie mit wenigen Überlebenden wirkt im März 2020 zunächst makaber. Postapokalyptische Romane spielen selten länger als einen Jahreslauf hindurch, weil es kleinen Gruppen selten gelingt, Nahrungsmittel anzubauen, sich gleichzeitig gegen Konkurrenten zu verteidigen oder gar fortzupflanzen. Mutter und Monster leben dagegen bereits über mehrere Pflanzperioden. Wer keine Ansprüche an die Logik einer Weltenbildung stellt und sich auf die Persönlichkeit der beiden Figuren konzentriert, findet hier einen klar und ruhig erzählten Endzeitroman.