Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 2.12.2020

Nicholas Jubber unternahm in mehreren Etappen eine Low-Budget-Reise durch Europa auf den Spuren klassischer Epen, der Odyssee, dem sog. Kosovo-Zyklus, dem Rolandslied, dem Nibelungenlied, der Beowulf-Legende und der isländischen Brennu-Njáll-Saga. Jubber reiste zur Zeit der Brexit-Abstimmung durch ein sommerlich liebenswertes Europa, zu Fuß, mit dem Bus, mit der Fähre, eine Art zu reisen, die ausgiebig Gelegenheit bietet, mit den Menschen zu sprechen. Seine literarische Reisegeschichte wird auf dem Cover von einem Drachen-Stencil vor orangenem Hintergrund illustriert. Die Farbe Orange setzt sich fort auf Trennseiten zwischen den 6 Kapiteln, die das entsprechende Epos in weißer Schrift auf Orange abbilden, und zieht sich weiter auf dem Buchschnitt, wo eine zarte orangene Linie optisch die Kapitel unterteilt. Der Autor sucht auf seiner Umrundung Europas dessen Wurzeln in Heldenmythen, die stets in Zeiten von Kriegen und großen Erschütterungen entstanden. Epen (mündlich vorgetragene Heldengeschichten) bilden seiner Ansicht nach ein dichtes Wurzelgeflecht, das er mit seiner Reise durchdringen wird. Verschiedenste Geschichtenerzähler waren u. a. Gesprächspartner, die Volksgut bewahren und weitergeben. Die zeitlosen Abenteuer des Odysseus spiegelt Jubber in seiner Begegnung mit Flüchtlingen auf Chios, auch sieht er Parallelen zwischen Odysseus und seiner eigenen Heimkehr aus dem West-Jordan-Land, eine verblüffende Gemeinsamkeit zwischen Außenseitern. Komplizierter zu vermitteln als die Odyssee scheint mir dagegen der 600 Jahre alte Kosovo-Zyklus, dessen Heldenmythen und Schuldzuschreibungen den Konflikt bis heute lebendig halten. In Dubrovnik beginnt für Jubber die Welt des Roland, das Rolandslied zähle neben dem Nibelungenlied und der Beowulf-Legende zu Europas bedeutendsten Epen. Während der Autor der Rolle des Puppentheaters für die Weitergabe von Epen und Mythen nachspürt, führt ihn seine Recherche in Italien wieder mit Flüchtlingen aus Afrika zusammen. Spanien konfrontiert ihn mit der Rolle der Mauren in seiner komplexen muslimisch-christlichen Geschichte, die Pyrenäen schließlich beherbergen das Kloster, in dem im 11. Jahrhundert das Rolandslied entstand. Jubber befasst sich am Beispiel des Rolandslieds gezielt mit dem Zurechtbiegen von Geschichte in Überlieferungen als Mittel zur Rettung des Nationalstolzes. Er verdeutlicht, dass Helden formbar sein können und (wie beim Balkan-Epos) verschiedenste Interessengruppen sich ihrer bedienen können, nicht immer mit ehrenhaftem Motiv. Sein Besuch in Rocamadour konfrontiert den Autor mit seinem eigenen Katholizismus, am Ort, an dem das Schwert aus dem Rolandslied im Felsen stecken soll. Das Nibelungenlied zeigt eine Wende von der rein männlichen Besetzung in Epen aus Kriegszeiten zu Konflikten, an denen auch Frauen beteiligt sind. In Worms schließlich, am Beispiel der Kriege des 20. Jahrhunderts, fragt sich der Autor kritisch, ob Krieg überhaupt eine Lösung sein kann. Eine weitere Reise nach Island schließt den Kreis der Epen mit Beowulf, der Basis unserer Faszination durch Monster, sowohl Blaupause für Helden der phantastischen Literatur, als auch Inspiration für Chrighton, Gaiman, Gardner und Tolkien. Selbst beim Vorlesen des „Wind in den Weiden“ meint Jubber nach seiner Europareise eine Verbindung zu Beowulf zu sehen. An Beowulf wird kein Phantastik-Interessierter vorbeikommen. Eindrucksvoll fand ich besonders, wie am Beispiel Islands der Zusammenhang von Erzählkultur, Belesenheit und literarischer Tradition deutlich wird. Kein Land bringt, gemessen an der Bevölkerung, so viele Autoren hervor wie Island. Nicholas Jubber sieht Epen als Vorgänger unserer Soaps, beide Formate binden Zuhörer und Zuschauer an sich. Flucht und Angst vor Überfremdung waren auf Jubbers Reise wiederholt Thema, im Grunde ein Motiv für ein Epos des 21. Jahrhundert. Die Masse des Stoffs habe ich in nur kleinen Portionen aufgenommen. Dem Autor gelingt es, mein Interesse für Heldenepen und Heldenmythen zu wecken, indem er Reiseerlebnisse, überlieferte Texte, die Symbolik von Ungeheuern und europäische Geschichte in großem Bogen zu einem plausiblen Ganzen zu verknüpft.

zurück nach oben