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Buchdoktor

Posted on 1.12.2020

Entscheidende Stationen auf dem Lebensweg jedes Japaners werden vom Einsetzen der Kirschblüte im April begleitet: Einschulung, Schuljahresbeginn und Beginn des ersten Arbeitsverhältnisses. So war es auch bei der japanischen Journalistin Naoko Abe. Nach ihrem Umzug nach England war sie erstaunt über die ungewöhnliche Sortenvielfalt von Zierkirschen, die sich ihr auf der britischen Insel zeigte. Sie stieß auf Collingwood »Cherry« Ingram, der sich nach einem Japanbesuch dem Land eng verbunden fühlte und dessen Rettungsaktion dieser Sortenvielfalt ihn bei europäischen Gartenbauexperten legendär machte. Ingrams Biografie berührte Naoko Abe besonders, als sie darin enge Parallelen zur Biografie ihres Großvaters entdeckte. Ingrams Nachfahren stellten ihr für ihre Recherchen eine Fülle von Tagebüchern und Aufzeichnungen zur Verfügung. Collingwood Ingram (1880-1981) kam als vierter Sohn einer reichen, exzentrischen Familie zur Welt, die bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche Länder bereiste. Seine australische Mutter und Edward, der Onkel mütterlicherseits und typisches viktorianisches Universalgenie, haben sicher Ingrams Abenteuerlust geweckt. Vater und Großvater waren Parlamentsabgeordnete und Besitzer der Illustrated London News. Der Junge besuchte keine öffentliche Schule, sondern interessierte sich schon als Kleinkind nur für Vögel. Ingram und seine Geschwister hatten es als Erwachsene durch das Erbe ihrer Großmutter nicht nötig zu arbeiten. 1902 reist Ingram zum ersten Mal nach Japan. Auf seine zweite aufwändige Reise nimmt er 1907 seine schwangere Frau mit, die vermutlich wenig „amused“ über Ingrams Begeisterung für Vogeleier gewesen sein wird. Als die jungen Ingrams nach Benenden/Kent ziehen, einen repräsentativen Besitz in der Nachbarschaft von Vita Sackville-Wests Sissinghurst, legt Ingram einen englischen Landgarten an und findet dabei 20 Jahre alte Zierkirschbäume vor, die schon immer eine Rarität waren. Im Japan verwandten Inselklima und in einer Ära, in der das Gärtnern gerade populär wurde, beschließt er, Zierkirsch-Arten zu sammeln und Experte dafür zu werden. Ingrams Interesse fällt zusammen mit einem Niedergang der japanischen Nationalpflanze, die inzwischen der feudalen Vergangenheit des Landes zugeordnet und für dekadent gehalten wird. Der Kirschbaum-Aficionado trifft zwar in Japan auf wenige Experten. Sein Projekt kann er jedoch nur schwer verständlich machen: er will im ganzen Land Reiser sammeln, auf robuste, gesunde Wildkirschen propfen und so seltene Sorten erhalten. Trotz aller Widerstände gelingt es Ingram, ein weltweites Netz von Experten, Baumschulen und Sammlern aufzubauen, die sich Reiser seltener Arten per Schiffsfracht zusenden. Ein eingeschobener schlüssiger Exkurs der Biografin in die japanische Geschichte gibt Einblick in das Feudalsystem der Shogune, den Übergang von der Abschottung des Landes gegenüber dem Ausland zur Öffnung 1854, sowie zum Einfluss jesuitischer Missionare und niederländischer Händler. Die Öffnung bringt Tausende von ausländischen Beratern ins Land, die häufig eine Obsession für alles Japanische zurück in ihre Heimatländer bringen. Die präzise erklärten historischen Fakten erleichtern das Verständnis für die Beziehung zwischen japanischer Kultur und dem nicht immer willkommenen ausländischen Experten. Ein weiterer hochinteressanter Exkurs blickt auf drei europäische Ärzte und Hobbybotaniker, die sich untereinander nicht kannten, jedoch zwischen 1690-1862 auf der Nagasaki vorgelagerten Handelsstation hingebungsvoll sammelten, gärtnerten und ihre Begeisterung für die Flora Japans in die Welt trugen. Ein Blick auf eine Schwiegertochter Ingrams, die als Krankenschwester Jahre in japanischer Internierung verbrachte, vermittelt schließlich eine Vorstellung davon, wie schwierig das Verhältnis zwischen ehemaligen Kriegsgegnern nach 1945 gewesen sein wird. Naoko Abe porträtiert mit „Cherry Ingram“ einen wohlhabenden und exzentrischen englischen Landedelmann. Ingram konnte es sich leisten, sein Leben der Artenvielfalt zu widmen, nachdem er Gleichmacherei und Gleichgültigkeit gegenüber Flora und Fauna als Fehler erkannt hatte. Seine Vorstellungen kollidierten allerdings mit dem japanischen Drang zur Homogenität, so dass der Kirschblüten-Prophet selbst zur Tat schreiten musste. Naoko Abe setzt nicht nur Ingram ein Denkmal, sondern auch seinen Lehrern und Weggefährten. Dass die Autorin für die überarbeitete Ausgabe weiter ausholt, hat ihrer Biografie m. A. gutgetan. Auch ihre Verknüpfung zwischen der Kultur zweier Inselnationen und zwei Familiengeschichten hat mir gefallen. Fazit „… weder eine Blüte, noch eine Gesellschaft kann sich umfassend entwickeln, wenn alles und jeder gleich ist.“ (S. 354) Ob für Gartenliebhaber, Japaninteressierte oder Fans von exzentrischen Gestalten - Naoko Abes Biografie Ingrams ist eine Horizonterweiterung.

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