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Buchdoktor

Posted on 1.12.2020

„Feel Nature“ ist die allerletzte Chance für die vier Teilnehmer. Sollten sie im Arbeitscamp für kriminelle Jugendliche scheitern, droht ihnen eine Haftstrafe. Ziel des Camps ist, dass Problemjugendliche sich in Gleichaltrigen zu erkennen lernen. Die gemeinsame Renovierung weiterer Hütten für das zukünftige ökologische Mustercamp soll den Rahmen dazu abgeben. Im ehemaligen FDGB-Ferienheim im Elbsandsteingebirge warten zwei Pädagogen auf vier Teilnehmer – und die schwer durchschaubare Tochter des Betreuers Gunnar. Lara scheint zunächst weder Pädagogin noch Teilnehmerin zu sein. Ryan ist vierzehn und findet selbst, dass ein Erziehungscamp für ihn längst zu spät ist, Flix kommt als schwer gezeichnetes Gewaltopfer, Olympe hat den Unfalltod ihrer Eltern zu verarbeiten und Noomi plante ihren Auftritt exakt, aus sehr persönlichen Gründen. Das Leben im Camp ist reduziert auf Arbeit, Essen, Schlafen und pädagogisch wertvolle Gruppendiskussionen. Je eine staubig riechende Hütte für Mädchen und für Jungs, dahinter einfach nur Wald mitsamt Mücken, Schlangen, Fledermäusen, das allein ist schockierend für die Stadtpflanzen. Die viele Natur hindert ihn am Denken, stellt Flix nüchtern fest. Es kommt dicker, als die Teilnehmer alles abliefern müssen, das mit Stecker oder Akku läuft, ihre Schätze, die ihnen Halt geben. Als wären Drill und Muskelkater von körperlicher Arbeit nicht genug, zeigt sich das Camp von seiner unheimlichen Seite. Ein größerer Schatten scheint den Teilnehmern förmlich in den Nacken zu atmen, Dinge verschwinden und ein Wesen mit kräftigem Schnabel oder scharfen Krallen arbeitet sich offenbar draußen an den Fensterbrettern ab. Vor einem Jahr war Noomi genau in dieser Gegend hochoben auf dem Falkenstein zu sich gekommen, ohne zu wissen, wie sie dort hinauf gelangt war. Niemand glaubte ihr die Geschichte. Um der mysteriösen Sache auf den Grund zu gehen, allein dafür mimte Noomi das Problemmädchen. Aber wie soll sie hier recherchieren, wenn sie kaum einen Schritt unbeobachtet tun kann? Als fünfte im Bunde beobachtet eine anonyme Erzählstimme die Vorgänge und scheint die Jugendlichen direkt anzusprechen – wer ist dieses Wesen? Während Gruppengespräche und Erziehungsmaßnahmen sich als die eigentliche Folter im Camp entpuppen, lassen die Jugendlichen zögernd ihre Leidensgenossen hinter ihre Fassaden blicken. Jeder trägt hier ein Geheimnis mit sich – auch der Wald hat sein Geheimnis. Die persönlichen Schätze der Figuren haben mich in ihrer Symbolik dabei sehr berührt. Rein äußerlich fühlt sich das Buch wertig an, ein Schatz, bei dem ich überlegte – öffnest du ihn oder hebst du ihn dir noch etwas auf? Ein auf alle Sinne zielendes Waldbuch ist so entstanden, in dem ebenso Liebe, Angst, Gewalt und Trauer im Mittelpunkt stehen. Wie unheimlich ein ganz normaler Wald wirken kann hat mich sofort in die Geschichte gezogen. Wenn Antje Wagner an einem Roman beteiligt ist, gibt es meist einen Mystery-Anteil. Das Rätseln um Spuren im Wald und Noomis Erinnerungslücke hat mich deshalb einiges Kopfzerbrechen gekostet, über das ich nicht spoilern will. Beeindruckend fand ich psychologisch-philosophische Zweiergespräche und originelle, differenziert charakterisierte Figuren. Ryan und Flix, von denen einer ein paar Jahre älter ist als die restliche Gruppe, hätte ich gern etwas genauer kennenglernt. Die Jugendlichen mit ihren traumatischen Erlebnissen und Schutzmechanismen zeichnen Antje Wagner und Tania Witte außerordentlich feinfühlig und lebensnah. Die vier ticken ganz so, wie ich es selbst in der Jugendarbeit erlebt habe. Ein anspruchsvoller Plot für Jugendliche kann dennoch leicht lesbar und schlagfertig formuliert sein, das zeigen die preisgekrönten Autorinnen hier erneut.

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