Buchdoktor
Eilifur Gudmundson stapft nach einem heftigen Schneesturm um 1900 in diese absurde Geschichte hinein. Der bitterarme Kätner wollte zu Weihnachten etwas Weizen eintauschen und war dafür tagelang in Schnee und Eis unterwegs. Doch weil das Handelsschiff noch nicht eingetroffen war, sah es im Kaufladen mau aus. Eilifur lässt sich auf ein sonderbares Tauschgeschäft ein, das Kilogramm Mehl gegen 33 Forellen, zahlbar im nächsten Frühling. Während der Schacherei um noch ungefangene Forellen scheint der Mehlpreis ständig zu steigen. Beim Lesen befürchtete ich deshalb, dass die Dinge im fiktiven Segulfjörður ins Absurde kippen werden. Eilifur findet bei seiner Rückkehr Frau und Tochter tot unter den Schneemassen, nur der zweijährige Sohn Gestur hat in den Trümmern der Kate überlebt. Alles für ein paar Handvoll Getreide. Eilifur, früher Ruderer eines Fischerbootes, ist noch immer arm wie eine Kirchenmaus und nirgends willkommen, obwohl er stets kräftig mit anpackt. Nur der kleine Gestur scheint es mit seiner Adoption durch Kaufmann Kopp zunächst glücklich getroffen zu haben, jedoch nur so lange, bis er wortlos weiter auf einen Bauernhof gegeben wird. Alles Positive scheint zunächst von ausländischen Schiffen in den Fjord zu kommen, die Gebühren für das Anlegen zahlen. Ein Agent verkauft Tickets für Auswandererschiffe in die USA und entvölkert damit offenbar ganze Landstriche Islands. Frischen Wind bringt ein junger Pfarrer - man hatte ihn ahnungslos in einem dunklen Fjord ausgesetzt - der sich nicht nur für das Volksliedgut interessiert, sondern vor allen anderen die Vorteile der Moderne erkennt. Auch wenn man hier niemanden ernstnimmt, der nicht körperlich arbeitet, handelt Sera Árni für die Fjordbewohner eine staatliche Finanzierung des Schiffsanlegers aus, der schließlich Beginn blühender Geschäfte mit ausländischen Schiffen sein wird. Weil der Prophet im eigenen Land noch nie etwas galt, wird Pfarrer Árni nicht durch seine Geschäftstüchtigkeit zum Star der Gemeinde, sondern weil er auf seinen Seelsorger-Wegen stets Fruchtblasenhäute mitbringt für die Fensteröffnungen der Grassoden-Häuser. Gerade weil die Geschichte meine Zweifel weckte, warum dieses Dorf überhaupt einen Pfarrer benötigt und keinen Schreiner oder Brunnenbauer, hat mich Árnis Raffinesse erheitert. Amüsieren kann ebenso die Rolle der Pfarrersfrauen, die sich durch ihre Eheschließung ein Leben in einem vergleichsweise komfortablen Steinhaus sicherten. Nach dem zu erwartenden Tod des Gatten durch übermäßiges Trinken lagen vor einer Pfarrerswitwe viele finanziell abgesicherte Jahre im Obergeschoss des Pfarrhauses, in dieser Geschichte Madamenhaus genannt. Hallgrímur Helgason erzählt von starken Frauen, traditionsbewussten Männern, Kindern, die wie Gepäckstücke weitergegeben werden, von unvorstellbarer Armut, Unwissenheit und der zweischneidigen Beziehung der Isländer zu Norwegen. Mancher Isländer mag Norwegen als Kolonialmacht empfunden haben – und dann besaßen die Norweger noch die Frechheit, geschickte Tischler zu sein und wasserdichte Schuhe zu besitzen! Mit überbordender Fantasie präsentiert Helgason seinen Lesern die Begegnung einer kargen, abgelegenen Gegend Islands mit der Moderne. Der Einstieg in die Geschichte wirkt durch die zahlreichen Personen-, Schiffs- und Landschafts-Namen durchaus komplex. Doch Helgason als genialer Geschichtenerzähler weiß, dass gute Geschichten bis heute eine wichtige Tauschwährung sind. In Segulfjörður (das verblüffend an den Sigluförður-Fjord erinnert) erwarb sich Ruhm, wer an langen Winterabenden aus menschlichen Schwächen unvergessliche Anekdoten zaubern konnte. Wer einen Schaden erlitt oder sich blamierte, sorgte wenigstens für den Spaß der anderen und lebte in ihren Erzählungen weiter. Ist das nicht heute noch immer so?