Buchdoktor
Die beiden Männer sitzen in ihrer Unterkunft fest, während es draußen seit Tagen schneit. Der namenlose Icherzähler wurde mit gebrochenen Beinen aus einem Autowrack gerettet, den älteren Matthias hat die Dorfgemeinschaft verpflichtet, den Verletzten zu pflegen – im Verandaanbau eines Hauses, der vermutlich nicht für die gewaltigen Schneemengen konstruiert wurde und nicht, um dauerhaft darin zu leben. Der Patient ist für den hier gestrandeten Matthias Klotz am Bein und Überlebenschance zugleich. Ein Stromausfall kurz zuvor führte zu einem postapokalyptischen Szenario, in dem noch immer Dorfbewohner vor dem Überlebenskampf fliehen, die dazu in der Lage sind, und in dem die Zurückbleibenden sich mit den Vorräten aus verlassenen Häusern durchschlagen. Bewaffnete Gruppen sollen unterwegs sein und auch hier, irgendwo im hohen Norden, wird der Besitz von Waffen und Munition über das Überleben entscheiden. Die Beine des Verletzten wurden geschient, seine Wunden genäht und die Tierärztin sieht regelmäßig nach ihm. Deutlich wird, dass die rund 10 verbleibenden Haushalte nur überleben werden, wenn sie sich gegenseitig unterstützen. Jemand muss auf die Jagd gehen, ein anderer Holz hacken – und der fiebernde Verletzte braucht immer noch Pflege und Medikamente. Jeder ist von den anderen abhängig und alle gemeinsam vom Wetter. Der Schnee wird bald die Dachtraufe erreichen … Lange spricht der Mann nicht mit Matthias, beobachtet den Alten nur. Ihre Notgemeinschaft ist ein einziges Belauern, Manipulieren und Taktieren. Matthias wirkt für sein Alter sehr agil, trainiert regelmäßig seine Muskeln; denn er will endlich weg aus dem Ort, in dem auch er gestrandet ist, und sich um seine Frau kümmern. Matthias putzt, repariert, bastelt ständig etwas; aber auch der Patient hat Fähigkeiten, die das Dorf zum Überleben braucht. Für den namenlosen Erzähler stellt sich die Frage, ob Matthias ihn zurücklassen wird, wer im Ort die Macht übernommen hat und was mit der Grippeepidemie im Land ist, von der er gehört hat. Christian Guay-Poliquin beschreibt zwei Gestrandete in einem beinahe dystopischen Szenario. Sein symbolstarker Text wirkte auf mich mehrdeutig und entwickelte von Beginn an in meiner Vorstellung ein Eigenleben. Durch die biblischen Namen der Figuren könnte der Text als Gleichnis angelegt sein, aber auch den nahenden Zusammenbruch der zivilen Gesellschaft in den Fokus rücken. Eine beeindruckende Wintergeschichte!