Buchdoktor
Martha und Ella sind per Bus auf dem Weg in ein verschneites Alpendorf. Ach nein, bitte noch einmal zurück. Martha liebt Stefan Zweig und hatte sich die verschneite norwegische Landschaft nur vorgestellt wie eine Abbildung aus einem Reiseprospekt der Alpenregion. Die Schwestern reisen zu einem Erholungsaufenthalt für Martha an, die nach einem Zusammenbruch gerade aus der Reha-Klinik entlassen wurde. Die behandelnde Ärztin hatte betont, dass es sich bei Marthas Problem um eine Krankheit handelt. Mutter Karlotta legt Wert darauf, dass Martha zu ihrem Genesungsurlaub begleitet wird und finanziert die Reise. Die Schwestern wurden mit nur einem Jahr Abstand geboren, so dass sie als Kinder vermutlich oft für Zwillinge gehalten wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass beide ihre Eifersucht auf die Schwester nie überwanden und ihre Beziehung bis heute nicht einfach ist. Die logisch denkende, mathematisch begabte Ella, die sich selbst wenig zutraut, und Martha mit dem Bedürfnis nach Eleganz könnten nicht gegensätzlicher sein. Martha versuchte schon in jungen Jahren vergeblich, aus der Symbiose mit ihrer Schwester auszubrechen, indem sie heiratet und nach Dänemark zieht. Mit der Ankunft der Schwestern wird deutlich, dass in diesem Roman nichts so ist wie im ersten Moment erwartet, weder für die Icherzählerin und Tagebuchschreiberin Ella, noch für Mona Høvrings Leser/innen. Ein Motorradfahrer erweist sich als die androgyne Dani, die die Liebhaberin der Rezeptionistin sein und damit Ellas Eifersucht befeuern könnte. Fazit Es geht in der gerade einmal 120 Seiten langen Coming-of-Age-Geschichte um Nähe, Distanz, Begehren, Abnabelung von der Mutter, Motive, die uns aus Volksmärchen vertraut sind. Der Roman erzeugt seine Wirkung in der Fantasie der Leser, oft lässt ein einziger Satz in der Vorstellung eine ganze Geschichte ablaufen, gerade wenn es um Erotik und Begehren zwischen den vier Frauen geht. Ein so knapper Text, der deshalb perfekt ist, weil darin nichts mehr weggelassen werden kann, eignet sich m. A. ideal für Literaturgruppen. Die Teilnehmer/innen erhalten damit ein überschaubares Lesepensum und umso mehr Diskussionsanreize.