Buchdoktor
Der Lebensraum der Ojibwe, Oji Cree und Cree im nördlichen Ontario ist bis heute nur schwer und kostspielig zu erreichen. In ihre kleinen, isolierten Reservate gelangt man teils nur per Flugzeug, auf dem Wasserweg oder wenn im Winter die „Winterstraße“ gefriert. Von einem Lebensraum, den ihre Vorfahren als Sammler und Fallensteller verantwortungsvoll nutzten aber nicht zerstörten, erhielten die heutigen Bewohner nur die Bereiche, in denen weiße Kanadier keine Bodenschätze vermuteten. Die Abwicklung dieser Landverteilung wirkt aus heutiger Sicht fragwürdig, weil die indigenen Bewohner einen anderen Begriff von „Land“ hatten als europäisch-stämmige Siedler und Missionare und bis dahin keine schriftlichen Verträge kannten. Bei Vertragsabschluss war ihnen nicht bewusst, dass sie mit den Weißen nicht über eine gemeinsame Nutzung des Landes verhandelten, sondern praktisch enteignet und vertrieben wurden in die Regionen, die keinen Profit versprachen. Indigene Völker konnten nur besitzen, was sie mit Händen wegtragen konnten, aber kein Land. Sie nutzten das Land gemeinsam mit anderen Gruppen und teilten seine Früchte. Sie sammelten Pflanzen, jagten Tiere als Fleisch- und Pelzlieferanten und zerstörten selbstverständlich ihre Quellen nicht. Im Jahreslauf zogen sie jeweils an bestimmte Plätze, die ihnen Fleisch, Häute, Kräuter oder Baumrinde lieferten. Dass ein Lebensraum vollständig ausgebeutet und zerstört werden kann, war den Indigenen vor der Ankunft der Weißen nicht bewusst, da auch nach schlechten Jahren die Natur und die Tierpopulation sich bisher immer erholt hatten. Manuel Menrath hatte seine Arbeit über die Völker des nördlichen Ontario als Habilitationsschrift an der Uni Luzern geplant. Das Maß an Leid, von dem er in den Gesprächen mit Zeitzeugen und Stammesältesten erfuhr, machte es ihm jedoch unmöglich, sein Thema trocken wissenschaftlich zu behandeln, so dass schließlich das vorliegende Buch entstand. Der Autor kannte indianische Geschichte zuvor nur aus der Sicht europäischer Siedler, vermutlich u. a. in der klischeehaften Form, in der Plains-Indianer der heutigen USA in Filmen und Büchern dargestellt wurden. Als Gast wird er von seinen jeweiligen Gesprächspartnern in der Rolle der Wissenshüter (einige davon gewählte Chiefs) oft ähnlich einem jugendlichen Schüler aufgenommen, der erst in seine Kultur hinein wachsen und sie an sich selbst erfahren muss. Einem Eisbären muss man selbst gegenüberstehen und sich nicht nur davon erzählen lassen. Vermutlich ist der Schweizer Autor mitten in die Legenden und die Erinnerungen seiner Kontaktpersonen hineingewachsen. Menrath trifft Menschen, die etwas zu erzählen haben, die ihm Zugang zu schriftlichen Quellen und Fotos verschaffen. Besonders beeindruckend war für mich die Begegnung mit Kartografen, die traditionelle geographische Begriffe indigener Sprachen sammelten, in Karten eintrugen und so den heutigen Nachkommen ihre Geschichte zurückgaben. Der Autor hört von der Unwissenheit der weißen Händler und Siedler, die ohne Hilfe der Einwohner den ersten kanadischen Winter kaum überlebt hätten, und ihrer Ignoranz gegenüber dem höchst sensiblen Lebensraum Tundra, der rücksichtslose Ausbeutung eben nicht verzeiht. Menrath erfährt von Zwangsadoption und Zwangserziehung indianischer Kinder in christlichen Internaten (Residential Schools), von sexueller Gewalt, Kinderselbstmorden und Schülern, die bei Fluchtversuchen aus den Internaten erfroren. Das Thema Selbstmorde Jugendlicher zieht sich bis in die Gegenwart; denn die erschreckend hohe Selbstmordrate unter jungen Menschen ist neben Alkohol und Drogen bis heute eines der drängendsten Probleme in abgelegenen Reservaten. Menraths Gespräche drehen sich u. a. darum, wie es passieren konnte, dass Völker in Abhängigkeit eines – eher unwilligen – Sozialstaates gerieten, deren Vorfahren sich bisher in ihrem Lebensraum selbst ernähren und verwalten konnten. Der historische Teil um die Pelzjäger und das Entstehen der Hudson Bay Company liest sich als zentraler Teil kanadischer Geschichte hochinteressant. Ebenso wichtig ist allerdings Menraths Blick auf die heutige Lebenssituation in entlegenen Reservaten. Er verdeutlicht, warum die Lebenshaltung dort so anspruchsvoll wie kostspielig ist und warum Widersprüche zwischen einem modernen Staat und der spirituellen Lebensweise seiner Ureinwohner noch immer kaum lösbar zu sein scheinen. Einer der Widersprüche war z. B. dass indigene Gemeinschaften matrilinear sein konnten oder weibliche Chiefs wählten, da ihre Führer für die jeweils anstehende Aufgabe ausgewählt wurden. Der Indian Act schien jedoch diese Traditionen gezielt zu missbrauchen, um Frauen nach ihrer Heirat mit Weißen ihren indianischen Status abzusprechen. Sie verloren ihre Ansprüche, in einem Reservat zu leben, Zugang zu Jagdquoten und Gesundheitsversorgung und nicht zuletzt wurde so rein statistisch die Zahl der Indigenen dezimiert. Manuel Menrath legt ein umfangreiches, inhaltlich bewegendes Werk zu Indigenen im nördlichen Ontario vor. Das Verhältnis sozialer, historischer und ökologischer Themen, die Kombination aus Zeitzeugenberichten, Quellen und Erlebnissen des Autors in der Gegenwart wirkt ausgeglichen. Insgesamt war es für mich eine ungewöhnlich faktenreiche, lang andauernde Lektüre, ich habe mich mit dem Buch wochenlang beschäftigt.