Buchdoktor
Der 12-jährige Felix Knutsson sitzt auf einer Polizeiwache in Vancouver/Kanada und versucht Constable Lee zu erklären, warum er mit seiner Mutter in einem alten Volkswagen-Westfalia-Bus lebt. Ein halbes Jahr zuvor hatte Astrid Knutsson nach einem Abstieg in mehreren Etappen mal wieder ihren Job verloren, weil sie den Mund nicht halten konnte. Nach jeder Etappe musste Felix in einer neuen Schule wieder von vorn beginnen und dabei nach außen verbergen, dass sie beide obdachlos sind. Dass der Junge immer die selben Kleidungsstücke trägt und ständig hungrig ist, ist nicht übersehen. Seine besten Freunde Winnie und Dylan ahnen längst, warum sie Felix nicht besuchen können und er mit ihnen stets komplizierte Treffpunkte in der Stadt ausmacht. Astrid Knutsson sieht sich selbst als Künstlerin und hat ein seltenes Talent, sich die Dinge schön zu reden. Für Felix ist unvorstellbar peinlich, wie Astrid sich die Dinge zurechtbiegt, denn andere zu belügen ist das Schlimmste, das man von Felix fordern kann. Wie peinlich es für einen 12-Jährigen sein muss, einer Polizistin zu gestehen, dass seine Mutter pleite ist und ihr Leben nicht mehr allein auf die Reihe bekommt, ist nicht schwer zu begreifen. Im vergangenen Sommer ergab sich für Felix überraschend ein Hoffnungsstrahl, als er zur Junior-Version von Kanadas populärster Quizshow eingeladen wurde, in der er einige Tausend kanadische Dollar gewinnen könnte. Als wandelndes Lexikon mit exzellentem Wissen aus Fernsehkrimis ist Felix die Idealbesetzung für eine Quizshow. Doch wer sich in der Schultoilette waschen muss und nie sicher sein kann, ob er sein Handy rechtzeitig aufladen kann, lebt gefährlich. Was passiert, wenn der Sender Felix nicht erreicht oder ein Brief nicht zugestellt werden kann, weil Astrid den Bus gerade mal wieder umgeparkt hat, damit sie niemandem auffallen? Ob Felix es rechtzeitig in die Show schafft und ob seine Geschichte ein gutes Ende findet, ist eine spannende Geschichte, an der Dylan, Winnie, Mr Ahmadi aus dem Gemüseladen und Vijay mit dem Turban, der beste aller Sozialarbeiter, ebenfalls ihren Anteil haben. Susin Nielsen hat einen respektvollen Weg gefunden, Obdachlosigkeit von Kindern zu beschreiben. Wie sie jungen Lesern Felix Scham nahebringt und die ungeheure Kraft, die es kostet, aus Loyalität gegenüber Erwachsenen vorhandene Hilfsangebote auszuschlagen, finde ich großartig. Ebenso, dass sie die Gefahren nicht beschönigt, die das Leben auf der Straße mit sich bringt. Wie Felix rückblickend seine Mutter beschreibt, empfinde ich als besonderes Highlight, die ja konstant gegen Felix Werte handelt und ihn zum Vertuschen der Misere zwingt. Ebenso respektvoll schildert die Autorin Kanada als multikulturelles Land, in dem Diversität und unkonventionelle Lebensweisen selbstverständlich ihren Platz finden.