Buchdoktor
Nils Pickert ist der Mann, der (im Rock) mit seinem kleinen Sohn (im Kleid) durch Villingen ging. Ein kleiner Junge im leuchtendroten Kleid steht stellvertretend für Ängste vieler Eltern, ihr Kind könnte homosexuell sein, es würde sich hier nicht „nur um eine Phase“ handeln und ihr Sohn könnte von anderen ausgegrenzt werden. Pickert sieht sich selbst als Vater, der sich um Kinder sorgt, während seine Partnerin sie eher anfeuern würde. Die Kleiderfrage ist für den Autor Symbol einer Gesellschaft, die in vielen Bereichen an starren Geschlechtsidentitäten festhält und die darüber hinaus erhebliche Probleme mit Zwang gegenüber Jungen und Gewalt gegenüber Frauen hat. Vorurteile und Stereotypen entstehen im Kopf – und so setzt sich Pickert mit dem auseinander, was sich im Kopf von Eltern und Erziehern abspielt und was sich ändern müsste, damit sich in unseren Kindern auch das Prinzessinnenhafte, das Individuelle entwickeln darf. Der Autor ist u. a. in der DDR sozialisiert, hat in Berlin gelebt und erinnert sich bis heute an sein Gefühl hilfloser Erniedrigung, als sein bester Freund von anderen Kindern verhöhnt und von der Lehrerin drangsaliert wurde. Pickert beschreibt eine Gesellschaft, die abweichend vom Stand der Wissenschaft binäre Geschlechtsidentität erwartet, um einen Menschen einordnen zu können. Uneindeutigkeit könnten wir nur schwer aushalten und ohne Farben, Kleidungsstil und Haarlänge unbekannte Personen offenbar nicht „lesen“. Wir nehmen uns zu selten Zeit, die Persönlichkeit anderer Menschen einfach zu beobachten. Wer einmal versucht hat, schlicht ein Buch/Hörspiel/Spielzeug für ein Kind mit bestimmten Interessen zu besorgen, kennt es: Kinderartikel müssen einem Farbcode zuzuordnen sein, damit Erwachsene sich orientieren können. Ist einem Kind nicht sofort ein Geschlecht zuzuordnen, haben wir als Eltern versagt. Wir müssen uns bohrenden Fragen stellen, ob Uneindeutigkeit Jungen schaden wird und ob Mädchen mit handwerklichen Interessen nicht schon in der Grundschule unweiblich wirken. Als Vater von Söhnen und Töchtern setzt der Autor sich mit dem Einfluss von Pop-Kultur und Pornografie auf Rollenbilder und unser Verhältnis zur Gewalt auseinander, dem Heldenstatus in Jungengruppen, wie Jungen lernen, mit Schmerz und Wut umzugehen und was das alles mit der Vaterrolle und der Aufgabenverteilung in der Familie zu tun hat. Wer sich bereits mit Rollenzuschreibungen beschäftigt hat, kennt die Stichworte. Pickerts Darstellung unterscheidet sich durch seinen biografischen Ansatz und die klare Ansage, dass auch Söhne „Dinge geregelt kriegen müssen“. Er spricht Gewalt in der Familie an, Angst vor Demütigung unter Gleichaltrigen, aber auch die Kränkung des männlichen Egos, die bereits anspringt, wenn sie erst vermutet wird (der hat so geguckt und deshalb habe ich zugestochen). Nach irregeleitetem Flirtverhalten von Prominenten und Kränkungen durch „den Feminismus“ an sich kommt schließlich unübersehbar die Vaterrolle auf den Tisch. An der Not und Unbeholfenheit unserer Söhne wird sich nichts ändern, solange Väter nicht endlich die Hälfte der Workload tragen und nicht bloß „helfen“, nachdem sie ausdrücklich um etwas gebeten wurden. Pickert schreibt selbstkritisch als Mann und Vater, nicht als Pädagoge. Konkrete Tipps gibt es daher weniger, wie Familien am besten mit starren Rollenbildern umgehen, die einem von Außenstehenden und aus den Medien entgegenschallen. Sich nicht mehr zum Komplizen von Geschlechter-Stereotypen zu machen und sie direkt anzusprechen, kann ein erster Schritt sein. Ein sehr gutes Buch, das mehr Väter erreichen könnte, wenn es einen Tick weniger intellektuell formuliert wäre und typografisch durch Absätze dem lesenden Auge auch mal eine Pause gönnen würde.