Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 30.11.2020

Als ihre Eltern kurz nacheinander sterben, sind Evered und Ada 11 und 9 Jahre alt. Sie waren in der einsamen Bucht in Neufundland geboren und noch an keinem anderen Ort gewesen. Die Familie hatte vom Kabeljau-Fang gelebt; ihre einzige Verbindung nach außen war alljährlich im Frühjahr das Schiff, das den gesalzenen Fisch aufkaufte und gegen Waren für ein ganzes Jahr verrechnete, sowie die Hebamme aus dem nächsten Ort mitbrachte. Handel war Männersache und Sennet Best musste sich den Bedingungen des Händlers beugen, selbst wenn der ihn offensichtlich über den Tisch zog. Der Fang der Familie war angeblich stets so schlecht, dass der Vater die Schulden vom Vorjahr nicht völlig abtragen konnte. Evered und Ada sind mit eiserner Pflichterfüllung groß geworden. Die Natur verzeiht keine Fehler, auch keine Unlust zur Arbeit. Wenn im Frühjahr das lose Packeis aus Labrador angetrieben wurde, jagte der Vater Robben wegen ihres Fetts und ihrer Häute. Wurden Schwärme von Kapelan-Köderfischen angespült, mussten sie aus dem Wasser geholt werden, um später die Angelhaken der Leinen zu bestücken, mit denen Vater und Sohn fischten. Beeren suchen, Wasser holen, Holz hacken, Fische fangen und verarbeiten, das alles war eine üble Plackerei. Vieles hatten die Kinder zuvor bei ihren Eltern beobachtet, dabei unbewusst deren Lebensweisheiten aufgenommen. Gesehen haben bedeutet noch lange nicht, etwas sicher zu beherrschen. Andere Kinder als diese können nur durch Beobachten längst nicht die eiserne Disziplin für die täglichen Pflichten aufbringen, die allein hier das Überleben sichert. Rückblickend erkennen die Kinder, wie wortkarg die Eltern gewesen waren und dass sie selbst auf dem Weg sind, ebenso zu werden. Als Leser ahnt man Dinge, die auch die Eltern nicht erklären konnten oder wollten. Die Kinder überleben auf sich gestellt die Frist, bis die "Hope" endlich wieder vor der Bucht ankert. Zu zweit können sie viel weniger Fisch pökeln als früher zu viert – entsprechend mager fallen die Waren aus, die sie sich leisten können. Von der ersten Begegnung mit dem Priester auf der „Hope“ an stellt sich die Frage danach, ob die Geschwister allein ausharren oder sich für ein für sie ungewisses Leben im nächsten Ort entscheiden werden. Jahre vergehen. Emed und Ada erkunden das Landesinnere, das ihnen völlig unbekannt ist, weil ihr Vater vermutlich zu schlecht sehen konnte, um sich an anderer Stelle als am Flutsaum zur See zurechtzufinden. Ihre Begegnung mit Strandgut von havarierten Schiffen und überraschenden Besuchern konfrontiert sie mit Schätzen, die ihnen das Leben erleichtern (Fernrohre, Waffen, Werkzeug) und dem Begehren dieser Dinge. Geschichten der Fremden von der Welt außerhalb der Bucht eröffnen ihnen neue Horizonte, wecken aber auch Ängste vor einer Veränderung. Für ihr körperliches Heranwachsen und ihre erwachende Sexualität fehlen ihnen die Worte, anderes holen sie aus ihrer Erinnerung hervor. Michael Crummey lehnt sich nach eigener Aussage in seinem Roman eng an historische Ereignisse aus der Geschichte Neufundlands an. Sein zeitloses Thema, ob und wie Kinder darauf vorbereitet werden können, in sehr jungem Alter allein klarzukommen, erinnert an Greenslade: Der Duft des Regens, Ammaniti: Anna, oder Stefánsson: Das Herz des Menschen. Nicht alle Entwicklungen der Kinder konnten mich überzeugen. Ihr Überleben jedoch, unfreiwillig aneinander gebunden, mit Knochenarbeit durch strenge Winter und regnerische Sommer hindurch wird kaum jemanden unberührt lassen.

zurück nach oben