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jankuhlbrodt

Posted on 26.11.2020

Literatur hat im Vergleich zu anderen Reiseunternehmungen einen entscheidenden Vorteil. Neben den Ortswechseln kann man sich auch auf Zeitreisen begeben. Man kann also die Lockdowns in verschiedenen Richtungen verlassen, sogar die Dimension kann man wechseln. Vielleicht ist es ja so, dass Unbehaustheit eine gewisse Voraussetzung dafür ist, eine gute Reiseschriftstellerin, ein guter Reiseschriftsteller zu werden, oder gar ein grandioser wie der zwischen Brasilien und Frankreich hin und herziehende Claude Lévi-Strauss und die aus der Ukraine stammende Sofia Yablonska. Bei letzterer wird die Sache noch verworrener als bei Lévi-Strauß, denn zum Zeitpunkt ihrer Geburt 1907 gab es die Ukraine als Staat gerade gar nicht, und das östliche Europa wurde neu ge-un-ordnet. Und wiewohl sie Ukrainisch schrieb, hat sie sich die Schriftsprache erst als Erwachsene angeeignet, weil in den Schulen, die sie besuchte, anderes unterrichtet wurde. Olena Haleta entwirrt in ihrem Nachwort die zeitlichen und nationalen Verwirrnisse, in denen die Autorin aufwuchs, lebte und arbeitetet. Als die Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion eingebunden wurde, blieb Yablonska jedenfalls in Frankreich. Spannend und außergewöhnlich aber ist, dass sie in der Zeit davor von Lwiw aus Reisen nach Marokko, China und Bora Borsa unternahm und diese in Reisebüchern dokumentierte. Im Verlag Kupido liegt nun eines der drei Reisebücher in deutscher Übersetzung von Claudia Dathe vor. Zwei weitere werden in den nächsten Jahren folgen. Dathe brachte den ukrainischen Text in ein musikalisches, fast swingendes Deutsch, sodass die Entstehungszeit noch fühlbar bleibt. Wir befinden uns also in den Zwanzigerjahren und die Verhältnisse (oder besser Hierarchien) zwischen den Nationalitäten und Geschlechtern finden in den einzelnen Lebenssituationen ihren je konkreten Ausdruck. Eine junge Frau bereist allein Marokko (an sich ein nicht nur für diese Zeit ein außergewöhnlicher Fakt) Marokko selbst befindet sich noch unter französischer Kolonialverwaltung, wird aber bereits von Touristen heimgesucht. Allerdings ist auch die Ukraine den höhergestellten Marokkanern wie vielen Franzosen noch kein Begriff, sodass sich ein gegenseitiges Erklärungspotenzial findet, denn ein Marokkaner, der sich über das schachspielerische Vermögen Yablonskas wundert, und sie deshalb zunächst für einen verkleideten Mann hält, hielt Ukrainer sogleich auch für Russen. Im Blick der Besucher Marokkos verschwimmen die Verhältnisse geradezu unter einem exotistischem Weichzeichner. Anfangs ist auch Yablonskas Blick davon geprägt. Und natürlich ist auch sie nicht frei von stereotypen Vorstellungen. Aber im Zuge des Aufenthaltes, und eben auch im Zuge des Textes, schärft er sich. Die Strukturen der Unterdrückung treten immer klarerer hervor, auch ihre jeweiligen Überlagerungen. Dabei ist es nicht so, dass Yablonska textlich soziologisch darauf abhebt. Sie bleibt das ganze Buch lang im Zustand der teilnehmenden Beobachtung. Die Brennweite aber des Blickes verschiebt sich, so dass die konkreten Verhältnisse schärfer hervortreten. Ein ethnografischer Bericht und ein Stück spannende Literatur, durchschossen von zeitgenössischen Fotografien.

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