shades_of_paper
Was ist eine Heimat, wenn dir die Menschen, die einmal deine Familie gewesen sind, fremd geworden sind und dein Zuhause kein Zuhause mehr ist? Diese Frage und auch die Suche nach Identität und Zugehörigkeit werden in „Der verlorene Sohn“ vor dem Hintergrund des kaukasischen Krieges beleuchtet. An unterschiedlichen Schauplätzen – genauer gesagt nämlich Russland, dem Kaukasus, Polen und Georgien – begleiten wir Jamaluddin, den ältesten Sohn des Imam Schamil. Seine Geschichte erstreckt sich über mehrere Jahre, sodass wir ihn reifen sehen können und auch die Verstrickungen des Krieges immer intensiver miterleben. Ich fand es sehr interessant, dabei auch immer wieder Einblicke in das gesellschaftliche Leben unterschiedlicher Länder und Bevölkerungsschichten im 19. Jahrhundert zu erhalten. Um in den Erzählstil der Geschichte hinein zu finden brauchte ich einige Seiten, allerdings habe ich dieses Buch völlig unbewusst in einer sehr kurzen Zeit durchlesen können, weshalb ich rückblickend sagen würde, dass mir der Stil sehr gefallen hat. Es wurde nie zu melodramatisch, aber auch nicht zu nüchtern erzählt und Olga Grjasnowa hat es geschafft, eine ganz besondere Poesie in ihre Worte zu legen, die mich sehr abholen konnte. Ganz besonders haben mich die letzten Kapitel mitgerissen, die sehr minimalistisch gehalten waren und mir in ihrer Einfachheit und dennoch vorhandener Ausdrucksstärke richtige Schauder über den Rücken jagen konnten. Es treten viele Charaktere in diesem Buch auf, was zum einen der diversen Schauplätze, wie aber auch der langen Zeitspanne geschuldet ist, in der die Geschichte spielt. Manchmal kam ich ein wenig mit den Namen durcheinander. Da viele der Figuren allerdings nur temporär wichtig sind, und – einmal von der Bildfläche verschwunden – oft kaum mehr eine Rolle gespielt haben, empfand ich das als nicht allzu schlimm. Die Entwicklung der Charaktere, allen voran natürlich der Jamaluddins, fand ich sehr gelungen dargestellt! Seine Züge schienen mir sehr gut ausgearbeitet, realitätsnah und durchdacht. Auch wenn das Buch im Insgesamten ziemlich traurig ist und man sich immer wieder fragt, wie viele Schicksalsschläge und Umbrüche eine einzelne Person wohl ertragen kann, habe ich das Lesen sehr genossen. Mir konnte die Geschichte ein Thema näherbringen, mit dem ich vorher noch nicht vertraut war und sie hat auch ein tieferes Verständnis für die verschieden vorkommenden Kulturen in mir erweckt. Ich hoffe, in Zukunft noch mehr von dieser Autorin hören zu können und werde die Augen offenhalten!