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mabuerele

Posted on 23.11.2020

„...Wie erklärt man den Kindern und Enkeln, was in einem totalitären Terrorregime für den Einzelnen möglich ist? Können sie sich bei all den Freiheiten, die für sie heute selbstverständlich sind, überhaupt vorstellen, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben?...“ Das sind nur zwei der Fragen, die der Autor im Vorwort seines Buches formuliert. In diesem Buch gibt er Frauen eine Stimme, Frauen, die Vertreibung und Gewalt erfahren, Frauen, die im Bombenhagel um die Kinder gebangt haben. Es bleibt nur noch eine kurze Zeitspanne, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Dieses Mal hat der Autor Frauen aufgesucht, um sie zum Sprechen zu bewegen. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Am Anfang analysiert der Autor, was der Krieg für die Frauen bedeutet hat. Dabei geht es auch um Fragen der Schuld und um die heutige Sicht auf das Geschehene. Dann folgt ein zweiter Teil zum Thema Vertreibung. Der dritte Teil wendet sich dem Bombenkrieg zu. Auch der zweite Abschnitt beginnt mit einem Überblick über die damaligen politischen Entscheidungen und die konkreten Folgen. Dann folgen fünf Erlebnisberichte. Gisela, die zu Kriegsbeginn 14 Jahre war, erzählt zum Beispiel: „...Aber nach Stutthof sind Juden aus anderen Gebieten deportiert wurden, mit Zügen, klammheimlich und nachts an der Stadt vorbei. Das haben wir nach dem Krieg erfahren. Geahnt hat das niemand. Auch dass dort eine Menge katholischer Priester ermordet worden sind, bekamen wir erst später mit...“ Die Erlebnisberichte werden vom Autor durch Faktenwissen ergänzt. 1944 wird Gisela zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. In letzter Minute plant die Führerin die Flucht. „...Dirschau diente als Eisenbahnknotenpunkt. Dort wurden wir in einen Güterzug gesteckt, mit den wir drei Tage unterwegs waren. Der Zug hielt an verschiedenen Ortschaften, wo wir notdürftig mit Wasser, Suppe und Brot versorgt wurden. Die Kälte blieb unerträglich...“ In allen Berichten wird eines deutlich: Die Flucht geschah etappenweise. Glaubte man sich sicher, kam die Armee näher und es hieß, sich wieder auf den Weg zu machen. Hinzu kam, dass weder die Geflüchteten noch die Vertriebenen in der neuen Heimat willkommen waren. Der dritte Teil befasst sich mit dem Bombenkrieg. Hier zitiert der Autor den Philosophen Anthony Clifford Grayling: „...War das Flächenbombardement notwendig? Nein. War es verhältnismäßig? Nein...“ Den theoretischen Ausführungen folgen wiederum sieben Erlebnisberichte. Für uns Nachgeborene ist es unvorstellbar, Nacht für Nacht in einen Bunker fliehen zu müssen, ohne zu wissen, ob man ihn lebend verlässt. Der Bericht von Marianne aus Dresden klingt so: „...Wir saßen übermüdet im Keller, hatten wie immer Brot und Wasser dabei und freuten uns darauf, gleich wieder hoch ins Bett zu dürfen. Aber dann krachte und donnerte es so fürchterlich, dass der Putz von den Wänden fiel und die Decke bebte. […] Wir dachten, dass wir nicht mehr rauskommen...“ Manchmal entscheiden nur wenige Meter über Tod oder Leben. Ein Nachwort und ein Register ergänzen das Buch. Das Buch hat mich tief beeindruckt. Es ist mit Sicherheit keine leichte Lektüre, denn es lässt einen auch mit der Frage zurück, wie der eigene Blick auf die Vergangenheit der Familie ist. Mit einem Zitat möchte ich meine Rezension beenden: „...Was ist unsere Erinnerungskultur wert, wenn wir gar nicht mehr den Versuch wagen, die Vergangenheit zu verstehen?...“

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