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Der Anfang: «Atme. Atme. Ich öffne die Augen. Über mir ein Baldachin aus Bäumen. Ein Vogelschwarm starrt zu mir herunter und fliegt davon. Ich habe überlebt. Er vielleicht auch.» Das abgestürzte Flugzeug wird gefunden, völlig ausgebrannt, und Ally und ihr Verlobter werden als tot erklärt, obwohl Allys Leiche nicht gefunden wurde. Die zweite Perspektive ist Allys Mutter Maggie Carpenter, die in Owl Creek in Maine wohnt und nicht glauben mag, dass ihre Tochter tot ist. Seit dem Tod ihres Manns hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter, die im Zorn gegangen war. Wer war Ally, die mit dem superreichen Ben Gardner, Sohn eines Pharmamoguls, verlobt war – die Hochzeit stand kurz bevor. Ben Gardner selbst war der CEO eines eigenen erfolgreichen Pharmaunternehmens. Maggie recherchiert. An dieser Stelle ist es für mich nicht glaubwürdig, dass niemand im Umfeld von Maggie, die gut in der Nachbarschaft vernetzt ist, mitbekommen hat, was aus Ally geworden ist. Zur bevorstehenden Hochzeit gibt es genügend Artikel in Klatschzeitschriften. Maggy nimmt nach ein paar Tagen den Tod ihrer Tochter an, kontaktiert Bens Eltern auf, die auch zur Beerdigung von Ally anreisen. Diese Figur drosselt die Handlung mit Vollbremsung. Ally ist klug, teilt Essen und Trinken auf, findet den richtigen Weg, sucht sich schützende Schlafplätze beim Abstieg, versorgt ihre Wunde. Immer am Limit kommt sie doch stetig voran. Die Autorin arbeitet mit Cliffhangern zwischen Mutter und Tochter. Ally überzeugt mich nicht. Sie weiß alles, kennt sich gut aus, Erinnerungen aus der Kindheit. Sie findet den Weg – gut, sie muss theoretisch nur abwärts steigen – aber auch hier kann man sich heftig verlaufen, wenn man sich nicht auskennt. Und irgendwie scheint man oben in den Rockys verletzt gut laufen zu können … Zufällig findet Ally eine Hütte, in die es sich einbrechen lässt, zufällig helfen ihr später Menschen weiter, die sie nach dem Bild aus der Zeitung sogar erkannt haben. Ziemlich viel Scharfblick und Glücksfälle am laufenden Band, das alles nimmt dem Plot die Spannung. Noch mehr bremsen die Kapitel der Mutter, die für mich eine tote Figur, weil sie passiv ist. Sie bewegt sich kaum, fährt nicht einmal zum Showplatz, um die Suche ihrer Tochter in die Wege zu leiten – zu der Zeit, als sie meint, Ally hätte überlebt. Maggy recherchiert über Ally, erinnert sich an früher. Irgendwann erfährt sie von außen, dass ihr zukünftiger Schwiegersohn wohl doch Dreck am Stecken hatte. Würde man die Kapitel der Mutter herausnehmen, würde sie nicht fehlen. Denn alles, was die Mutter recherchiert, erfahren wir auch von Ally. Beide Charaktere sind ziemlich flach angelegt – genauso flach wie die gesamte Handlung. Eingeflochten ist ein Pharmaskandal, den man sicher intensiver mit Hintergrundmaterial spannend hätte einbringen können. Sprachlich erinnerte mich der Thriller eher an ein Jugendbuch, in Konstruktion und Pathetik. Reiche Menschen sind schön, dürre, bzw. athletisch und viele davon sind böse. Schwer verletzt kämpft man sich durch die Wildnis, findet den Weg – alle Amerikaner haben anscheinend Indianerinstinkt und zum Glück steht dann in wirklich ausweglosen Situationen ein Egel vor der Tür. Der Verfolger kommt nicht mal in die Nähe des Opfers. Zwischentöne fehlen, besonders in den Figuren. Gut und Böse sind eindeutig, man weiß gleich, woran man ist. Das Ende ist so voraussehbar! Selbst die sogenannte Überraschung zum Ende war klar, wie ein sonniger Tag – schon früh erkennbar. Logik nein Danke, Charaktertiefe braucht nicht, alles geht immer gut, Spannung vergessen – so schreibt man langweilige Romane – immerhin passt die einfache Tonalität gut dazu. Am Ende fragt man sich, warum solche Bücher übersetzt werden und obendrauf auch noch mit riesigem Marketingaufwand beworben werden. Jessica Barry wuchs in einer Kleinstadt in Massachusetts auf und studierte an der Boston University und am University College London Englisch und Kunstgeschichte. Heute ist sie in der Verlagsbranche tätig und lebt mit Ehemann und zwei Katzen in London.