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«Weißt du eigentlich, was passiert, wenn tief unter uns was rutscht? Ich wusste es nicht, und Fly sagte: Dann gibt’s einen Wirbel. Einen kleinen, aber heftigen Wirbel. Der zieht dich in die Tiefe, bevor du überhaupt schreien kannst.» Die Geschichte beginnt als Rückblick in den letzten Jahren vor der Wende im Pfarrerhaus in der ostdeutschen Pampa, Braunkohleabbau, sächsische Dorfidylle: Missbrauch und Misshandlung. Die Freundschaft zweier zerstörter Kinderseelen, die später als Erwachsene versuchen einen Ausweg aus dem Trauma zu finden. «Er schlug die Decke zurück, zog mir die Pyjamahose herunter und schlug mir auf den Hintern. … Als schlüge er auf einen defekten Automaten, oder als wäre er selbst ein Automat, der nur einen Arbeitsschritt, für den er konstruiert ist, durchführt.» Ruth spielt Geige, allerdings am liebsten allein auf dem Dachboden, völlig versessen, denn hier kommt Opa nicht herauf. Die Tochter des Pfarrers hat Angst vor Vampiren. Bei ihr zu Hause gibt es oft Kloppe. Das ist der Unterschied zu Schlägen, Kloppe bedeutet: richtig was drauf – etwas, was man tagelang spüren und sehen kann. Und dann ist da Opa, der sie wie ein Vampir aussaugt. Sieht denn keiner, was er mit ihr macht? Papa und Mama schreien sich oft an und am Ende ohrfeigen sie sich gegenseitig, eine Latsche nach der anderen. Die Muter versteckt ihre Traurigkeit «unter einem ständigen Redefluss und den komischsten Grimassen des Dorfs ... Aber welche Traurigkeit eigentlich?» Ruth und ihr Bruder Fly durchleben ein Martyrium. Normalität. Aus allen Nachbarhäusern tönt Gebrüll und Gekloppe. «Danach war er wieder mein Großvater, der im Sessel saß und Nachrichten hörte. Seine Wangen leicht gerötet, als hätte er einen Spaziergang im Garten gemacht, die Augen geschlossen. Aber ich war immer noch eine Puppe und stakste mit steifen Beinen aus der Stube. Die Radiowellen rollten durch die Stubenluft und erschwerten das Vorankommen.» Ruths bester Freund Viktor, Sohn einer Ukrainerin und eines NVA-Offiziers, hängt an seinem Mondglobus und er hat ein faltiges Gesicht. Er fürchtet sich vor seinem Scheißschwager. Bekommt denn niemand etwas mit? Seine große Schwester kann doch gar nicht so blind sein! Viktor lässt alles über sich ergehen, denn er hat einen Schalter in seinem Kopf gefunden – klick und schon ist er draußen – das, was geschieht, erlebt nur sein Körper. Als er älter wird, macht er jeden Tag 100 Sit-ups und rasiert sich eine Glatze, trägt Springerstiefel, ihm soll keiner querkommen. «Würde der Schwager erzählen, was Viktor alles hatte mit sich machen lassen? Wie er ihn ausgesaugt hatte, bis er sich so fühlte, als könne er nie, nie wieder die Augen öffnen und jemandem ins Gesicht sehen?) Hatte die Schwester es mitbekommen und war vielleicht böse? Würde sie petzen? Lieber Gott, betete Viktor, bitte mach, dass es keiner erfährt.» Ruth wird später als Geigerin reisen – verheiratet mit einem finnischen Musiker, der manchmal völlig ausrastet. Und Victor geht nach dem Abi als Au-Pair nach Frankreich. Hauptsache nur weg. Doch Gewalt findet sich überall. Auch Victor wird mit der eigenen Kindheit konfrontiert. Die Kinder wachsen in den 1980er Jahren in der DDR auf. Eine idyllische Atmosphäre, fein geschildertes Dorfleben. Dazwischen aber immer wieder Gewalt. Die Mutter von Ruth blättert durch ihr Fotoalbum, berichtet von der Prügel, die sie und ihre Geschwister erhielten, meint, gut, dass die Fotos schwarz-weiß sind, da könne man die vielen blauen Flecken nicht sehen. Gewalt über Generationen. Gewalt, die sich immer wiederholt. Die Vampire im Kopf, nicht erinnern wollen, wegdrücken – und bloß nicht darüber reden – Identitätsverlust. Ulrike Almut Sandig schreibt in wundervollen Bildern, scharf beobachtende Prosa. Auch die Geschichte von Victors Au-Pair-Tätigkeit ist herrlich. Der riesige Germane mit Pranken wie Maurerkellen hat sich als Victoria beworben. Nach der ersten Überraschung beweist sich der Junge, der kaum Französisch spricht, als fleißig und geschickt im Haushalt und sprachgewandt, wird als Teil der Familie aufgenommen. Victor, der die neuen Eindrücke in sich aufnimmt, das französische Flair. Trotz aller Gewalt strahlt der Roman Heiterkeit und Humor aus – das Böse ist tief verborgen. Ein Roman, der mir gut gefallen hat. Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.