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jankuhlbrodt

Posted on 11.11.2020

Die neue von Ilma Rakusa herausgegebene Zwetajewaausgabe versammelt bereits erschienenen Übersetzungen aus Zwetajewas Werk, als auch neue übersetzerische Arbeiten. Es wird am Ende die umfangreichste Ausgabe sein, die bisher auf Deutsch erschienen ist, eine, die einer Gesamtausgabe nahe kommt. Natürlich werden Slawistinnen und Slawisten sich an die russischen Originaltexte halten, aber da Slawistinnen und Slawisten nur einen sehr geringen Anteil der Gesamtbevölkerung ausmachen, bleiben noch jede Menge Leserinnen und Leser übrig, denen diese Ausgabe ans Herz zu legen wäre. Der erste Band „Ich schicke meinen Schatten voraus.“ versammelt Prosa und autobiografische Schriften. Diese sind zuweilen voneinander schwer zu unterscheiden. Zwetajewa ist hier ihr eigenes Material. Mein „Ich kann nicht“ ist am allerwenigsten Schwäche. Im Gegenteil: es ist meine Hauptstärke. Es gibt also etwas in mir, das trotz all meinem Wollen (meiner Gewaltanstrengungen mir selbst gegenüber!) dennoch nicht will, trotz all meinem wollenden Willen, der gegen mich selbst gerichtet ist. Etwas, das nicht will, um all meiner selbst willen. Es gibt also (außer meinem Willen!) ein „in mir“, „mein“, „mich selbst“; – es gibt mich. Die Prosa Zwetajewas ist autobiographisch. In ihr sind die Stationen eines dramatischen Lebens eingeschrieben, das sich in verschiedenen Stationen über die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erstreckt. Aber, und das ist das Faszinierende, es hinterlassen die dramatischen historischen Ereignisse in den Texten ein eindringliches Echo, zuweilen wie ein kaum wahrnehmbarer Störton, die Zeit als Tinnitus, dem es nicht gelingt die Schönheit der Erzählungen, die von verschiedenen Übersetzerinnen aus dem Russischen übertragen wurden, zu zerstören. Im zweiten Band, der unter den Titel „Lichtungen“ Essays und Erinnerungen versammelt, Es geht um Schriftstellerkolleginnen und - Kollegen wie Brjussow und Bely, aber in einem langen Essay auch um die Künstlerin Gontscharowa, die wie Maleweitsch das russische Kunstleben der Zehnerjahre prägte. (In diesem Zusammenhang taucht sauch der Name Tichon Tschurilins auf. Tschurilin war ein Dichter, den Zwtajewa sehr schätzte, dessen Werk aber in den Stürmen des Jahrhunderts mehr oder weniger verblasen wurde und dessen Entdeckung meiner Meinung nach dringend ansteht.) Sie initiierten eine künstlerische Revolution in den Jahren vor dem großen gesellschaftlichen Umbruch, den Zwetajewa in seiner Dramatik in allem Ausmaß zu spüren bekam. Sie musste sich darin orientieren und immer wieder neu orientieren ihre künstlerische Autonomie zu bewahren. Dafür steht zum Beispiel ein Text, der „Puschkin und Pugatschow“ heißt, und der von Elke Erb übertragen würde. Darin findet sich eine Aussage, die sowohl für Zwetajewa als auch Puschkin Gültigkeit beanspruchen kann: „Ohne die Leidenschaft für den, der übertritt, ist man nicht Dichter. (Dass sich diese Leidenschaft für den, der übertritt, in einer revolutionären Ordnung beim Dichter in Konterrevolution verkehrt, ist natürlich, verkehren sich doch die Anführer selbst – in die Macht.)“ Kunst also ist Übertretung. Und zwar in jeglicher Hinsicht. Und wenn sich etwas etabliert, wird es suspekt. Vielleicht ist es genau diese Haltung die die formale Beweglichkeit einer Marina Zwetajewa ausmacht. Und sie sucht diese Beweglichkeit eben auch bei Kolleginnen und Kollegen, und sie forderte sie ein. So sind ihre literarischen Portraits als Zeitdokumente immer auch ein Stück weit Selbstportraits, und in ihrer poetischen Dringlichkeit sind sie von überzeitlicher Geltung. 5

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